Die Klaviatur des Todes: Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf (German Edition)
aufgepumpte Körper mit Tätowierungen übersät sind. Aber Hinweise auf die Identität des Toten, den Verbleib der restlichen Körperteile oder gar auf den oder die Täter entdecken sie nicht.
Am frühen Samstagmorgen, zwei Tage nach Auffindung des Rollkoffers, sitzt Hauptkommissar Wittig zu Hause beim Frühstück. Vor ihm liegt eine Tageszeitung mit dem aufgeschlagenen Lokalteil. Natürlich berichtet das Blatt auch heute wieder in großer Aufmachung von der »zerstückelten Leiche aus der Spree«, doch der Artikel enthält lediglich Spekulationen.
Wittig blättert weiter, aber seine Gedanken schweifen immer wieder zu dem mysteriösen Fall ab. Fast 48 Stunden nach dem Fund des Torsos haben sie noch keine brauchbare Spur, keinen Tatverdächtigen, ja nicht einmal einen Tatort. Und wie jeder erfahrene Kriminalist weiß auch Wittig, dass die Wahrscheinlichkeit, ein Gewaltverbrechen aufzuklären, nach dieser magischen 48-Stunden-Grenze drastisch sinkt.
Da bleibt der Blick des Hauptkommissars an einer unscheinbaren Meldung hängen. Im Freizeitclub Huxleys Neue Welt in der Hasenheide vor den Toren der Stadt beginnt just an diesem Tag ein großes Tattoo-Festival. Tausende Tätowierer und Freunde der so schmerzhaften wie facettenreichen Körperkunst werden in dem weitläufigen Clubgelände zusammenkommen, um ihre Künste vorzuführen oder sich über neue Trends und Motive zu informieren.
Wittig greift zum Telefon. »Mir ist da eben eine Idee gekommen«, sagt er, nachdem sich Kriminaloberkommissarin Lückertz gemeldet hat. »Im Huxleys läuft gerade eine Tattoo Convention ab. Schick doch mal ein paar unserer Leute in die Hasenheide raus. Die sollen Fotos von den Tattoos unseres Torsos herumzeigen – vielleicht fällt ja irgendwem etwas dazu ein.«
»Meinst du wirklich, dass das was bringt?« Beate Lückertz wirkt nicht sonderlich überzeugt. »Tattoos hat heutzutage doch fast jeder.«
»Das weiß ich auch«, entgegnet der Hauptkommissar. »Aber die meisten Leute begnügen sich mit ein paar mehr oder weniger dezenten Tätowierungen an nicht allzu schmerzempfindlichen Stellen. Unser Mann im Koffer aber hat seinen Oberkörper praktisch flächendeckend bebildern lassen. Und Kunden, die sich im Bereich der Brustwarzen tätowieren lassen, sind vermutlich immer noch eher die Ausnahme. Vielleicht haben wir ja Glück und irgendjemand erinnert sich an unseren Mann, wenn er die Fotos zu sehen bekommt.«
Allzu überzeugt ist auch Dominic Wittig nicht von seinem Plan. Aber die Zeit läuft ihnen davon, und außer den Tattoos haben sie nichts, um der Identität des Toten auf die Spur zu kommen. Und damit hoffentlich auch dem Täter.
Also beschließen sie, sämtliche verfügbaren Ermittler mit vergrößerten Ablichtungen der Torso-Tattoos hinaus in die Hasenheide zu schicken. Es ist zwar nicht die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen – aber die Suche nach einem Nadelkünstler unter Tausenden Tattoo-Fans erscheint auch nicht sehr viel aussichtsreicher.
Auf dem Gelände von Huxleys Neue Welt herrscht an diesem Samstag um die Mittagszeit lebhaftes Treiben. Heavy-Metal-Bands beschallen die sonst so beschauliche Heide mit markerschütternden Drum-Beats. In Zelten und unter freiem Himmel werden tätowierte Körper präsentiert und die allerneuesten Tattoo-Kreationen in Rücken, Arme oder weit sensiblere Hautpartien gestochen. Nadelkünstler aus aller Welt feiern lautstark ihr Wiedersehen. Bier fließt in Strömen, Wodka und Whiskey kaum weniger reichlich.
Den halben Tag lang laufen die Ermittler auf dem Festivalgelände herum. Hunderte Male zeigen sie die Fotos vor und stellen die immer gleichen Fragen: Kennt irgendjemand den Künstler, der diese Tattoos angefertigt hat? Oder erkennt sogar jemand den Träger dieser Tätowierungen anhand der vergrößerten Bildausschnitte wieder? Dass es sich um Fotos von einem Toten, wenn auch – im wahrsten Sinne des Wortes – um »Ausschnitte«, handelt, verschweigen die Ermittler wohlweislich.
Hunderte Male ernten sie Kopfschütteln oder Schulterzucken, doch schließlich landet einer der Ermittler, Polizeikommissar Sascha Mogurski, einen Treffer. Bis dahin musste der sprachbegabte Beamte seine Fragen häufiger auf Englisch oder Russisch als auf Deutsch stellen – die Tattoo-Szene ist international, und viele Nadelkünstler reisen ständig um die Welt, von einer Convention und einem angesagten Tattoo-Studio zum nächsten. Der junge Mann jedoch, dem Mogurski am frühen
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