Die Kleinbürger (German Edition)
ich ein Geheimnis verraten habe, obwohl Sie mir, wie ich zugebe, strengste Verschwiegenheit auferlegt hatten.«
Frau Thuillier und Celeste waren ein Schauspiel für sich, denn niemals hatten sich Zweifel und Hoffnung so deutlich auf einem menschlichen Antlitz gemalt.
Und Frau von Godollo fuhr fort, indem sie jedes Wort betonte:
»Weil ich wußte, wie sehr Ihnen Ihr Heil am Herzen liegt und weil man Sie beschuldigte, sich keck über die Gebote Gottes hinweggesetzt zu haben, indem Sie am Sonntag arbeiteten, habe ich den Damen mitgeteilt, daß ich Sie heute morgen in dem Hause der Rue des Postes getroffen habe, bei dem Pater Anselm, einem Gelehrten wie Sie, mit dem Sie gemeinsam bei der Lösung einer Aufgabe beschäftigt waren; ich habe ferner gesagt, daß Ihre wissenschaftlichen Beziehungen zu diesem heiligen und geistig bedeutenden Manne Anlaß zu andern Auseinandersetzungen gegeben haben und daß Sie ihm Ihre religiösen Bedenken unterbreitet haben, die er zerstreuen zu können hoffte. Eine Bestätigung meiner Angaben kann für Ihr Selbstgefühl nichts Beschämendes haben; Sie wollten einfach Celeste eine Überraschung bereiten, und ich war so ungeschickt, das zu verderben; aber wenn sie hört, daß Sie das, was ich gesagt habe, bestätigen, dann wird sie noch glücklich genug sein, um über das Wort, das sie von Ihnen erwartet, nicht mit uns zu feilschen.«
»Also bitte, mein Herr!« sagte la Peyrade; »es ist nichts Lächerliches, nach Erleuchtung zu streben; Sie, ein so geradsinniger Mann, ein solcher Feind der Lüge, werden doch nicht leugnen wollen, was die gnädige Frau mit solcher Bestimmtheit behauptet.«
»Fräulein Celeste,« sagte Felix nach kurzem Zögern, »wollen Sie mir gestatten, daß ich Ihnen zwei Worte ohne Zeugen sage?«
Auf ein bejahendes Zeichen Frau Thuilliers erhob sich Celeste. Felix ergriff ihre Hand und führte sie an ein zwei Schritte von ihrem bisherigen Platze entferntes Fenster.
»Celeste,« sagte er, »ich beschwöre Sie, warten Sie noch. Sehen Sie,« fügte er hinzu und wies auf das Gestirn des großen Bären, »jenseits dieser hellen Sterne liegt für uns die ganze Zukunft. Die Sache mit dem Pater Anselm kann ich nicht zugeben, weil sie nicht wahr ist. Es ist eine Notlüge. Aber haben Sie Geduld, Sie werden bald mehr erfahren!«
Celeste verließ ihn, und er blieb stehen, in den Anblick des Himmels versunken.
»Er ist wahnsinnig!« sagte das junge Mädchen verzweifelt und setzte sich wieder auf ihren Platz neben Frau Thuillier.
Felix schien diese Bezeichnung zu bestätigen, denn er stürzte aus dem Salon fort, ohne die Aufregung zu bemerken, in der Phellion und seine Mutter ihm nacheilten.
Während alle über dieses Verschwinden verblüfft waren, näherte sich la Peyrade respektvoll der Frau von Godollo und sagte:
»Gestehen Sie, gnädige Frau, daß es sehr schwer ist, einen Menschen aus dem Wasser zu ziehen, der sich selbst durchaus ertränken will ...«
»Ich habe mir bisher,« erwiderte die Gräfin, »eine solche Einfältigkeit nicht vorstellen können, so etwas ist doch zu albern. Ich gehe zum Feinde über und will mit dem Feinde, so bald es ihm beliebt, eine freimütige und loyale Auseinandersetzung haben.«
Am andern Tage richtete sich Theodosius' Wißbegierde auf zwei Punkte: wie würde Celeste sich mit der Entscheidung, die sie zu treffen auf sich genommen hatte, abfinden? Und was hatte diese Gräfin Torna von Godollo ihm zu sagen und was wollte sie von ihm? Der ersten Sache gebührte unbestreitbar der Vorrang; gleichwohl fühlte sich la Peyrade durch eine innere Stimme mehr zur Lösung des zweiten Problems hingezogen. Aber indem er sich entschloß, zuerst sich diesem zuzuwenden, war er sich darüber klar, daß er bei der Zusammenkunft, zu der er eingeladen war, gar nicht gut genug gerüstet erscheinen konnte.
Es hatte am Morgen geregnet, und der kluge Rechner wußte recht gut, daß ein Schmutzfleck auf dem Lack eines Stiefels Veranlassung geben kann, einen Mann geringzuschätzen. Er ließ sich also von seinem Portier ein Kabriolet holen und verließ gegen drei Uhr die Rue Saint-Dominique-d'Enfer, um sich in die vornehmen Gefilde des Madeleineviertels zu begeben.
Man kann sich denken, daß er sorgfältige Toilette gemacht hatte, die die Mitte zwischen der Ungeniertheit eines Morgenanzuges und der feierlichen Abendkleidung halten mußte. Da er durch seinen Beruf zum Tragen der weißen Krawatte verurteilt war, die er nur bei seltenen Gelegenheiten ablegen konnte,
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