Die Kleinbürger (German Edition)
auf eine der Bänke, die rings um das große Vorzimmer des Justizpalastes an den Wänden angebracht sind. Dort machte er sein Bündel auf, nahm ein Aktenstück heraus, vergrub sich bis über die Ohren hinein und gab sich den Anschein eines Mannes, der nicht Zeit gehabt hat, die Sache in Ruhe in seinem Arbeitszimmer zu studieren, in der aus dem Stegreif zu plädieren ihm nun seine Redegewandtheit und sein schnelles Auffassungsvermögen erlaubten. An einer solchen Durchsicht des Aktenstücks an diesem Orte konnte man auch den sorgsamen und gewissenhaften Advokaten erkennen, der sein Gedächtnis auffrischen und noch einen letzten Blick auf seine Batterien werfen will, bevor er sich anschickt, die Schlacht zu liefern.
Selbstverständlich beobachtete der Provenzale dabei verstohlen das Manöver Thuilliers. Dieser, der la Peyrade für sehr ernsthaft beschäftigt hielt, war unschlüssig, ob er ihn jetzt anreden solle. Nach einigem Hin- und Hergehen kam der Munizipalrat doch endlich zu einem Entschluß, und indem er direkt auf das Ziel lossteuerte, mit dem er sich schon seit mehr als einer Viertelstunde in Gedanken beschäftigt hatte, rief er, sobald er ihm gegenüberstand, aus:
»Sieh da, Theodosius! Besuchst du denn jetzt den Justizpalast?«
»Mir scheint,« antwortete la Peyrade, »mit den Advokaten im Justizpalast verhält es sich so, wie mit den Türken in Konstantinopel, von denen ein Landsmann von mir ernsthaft behauptete, daß man dort viele sieht. Erstaunlicher ist es jedenfalls, daß man dich hier trifft.«
»Durchaus nicht,« bemerkte Thuillier lässig; »ich bin wegen der verdammten Broschüre hier. Wird man denn mit ›eurer‹ Justiz jemals fertig? Ich war heute morgen wieder von der Staatsanwaltschaft vorgeladen. Im übrigen bedaure ich das nicht, da ich dieser Beunruhigung den glücklichen Zufall verdanke, dir zu begegnen.«
»Auch ich bin entzückt, dich zu sehen,« sagte la Peyrade, »aber ich muß dich verlassen, da ich eine Verabredung habe; übrigens mußt du ja auch zur Staatsanwaltschaft.«
»Da komme ich schon her«, sagte Thuillier.
»Hast du mit Olivier Vinet, deinem intimen Feinde, reden müssen?« fragte la Peyrade.
»Nein«, erwiderte Thuillier.
Und er nannte einen andern Beamten.
»Sieh mal, wie merkwürdig!« sagte der Advokat; »dieser junge Staatsanwaltsgehilfe scheint die Gabe der Allgegenwart zu besitzen: seit heute morgen ist er in einer Sitzung und hat eben seine Anträge in der Sache gestellt, in der ich vor wenigen Augenblicken plaidierte.«
Thuillier wurde rot, und indem er sich, so gut er konnte, zu helfen versuchte, sagte er:
»Nun ja, ich kenne die Herren doch nicht. Ich werde den einen für den andern gehalten haben.«
La Peyrade zuckte die Achseln und sagte ziemlich laut zu sich:
»Immer noch derselbe, der sich mit Ausflüchten um die Sache herumdreht und nicht gerade darauf losgehen kann!«
»Von wem sprichst du?« fragte Thuillier ziemlich verwirrt.
»Nun, von dir, mein Lieber, der du uns für Dummköpfe hältst, als ob nicht jeder seit länger als vierzehn Tagen wüßte, daß die Sache mit deiner Broschüre ins Wasser gefallen ist. Warum solltest du von der Staatsanwaltschaft vorgeladen werden?«
»Man hat mich,« antwortete Thuillier verlegen, »wegen der Bezahlung von ich weiß nicht was für Eintragungsgebühren vorgeladen. Kann man denn aus ihrem ganzen Geschreibsel klug werden?«
»Und da hat man,« fuhr la Peyrade fort, »für deine Vorladung gerade den Tag gewählt, an dem der Moniteur die Auflösung der Kammer meldet und dich damit zum Wahlkandidaten im zwölften Bezirk macht.«
»Weshalb denn nicht?« sagte Thuillier; »aber welche Beziehungen bestehen denn zwischen meiner Kandidatur und den Kosten, für die ich haftbar bin?«
»Ich werde dir die Beziehungen nennen«, erwiderte la Peyrade trocken. »Die Staatsanwaltschaft ist eine besonders liebenswürdige und entgegenkommende Behörde. ›Sieh mal,‹ wird sie sich gesagt haben, ›dieser gute Thuillier ist jetzt Wahlkandidat und muß ein wenig in Verlegenheit sein, wie er sich seinem früheren Freunde, Herrn la Peyrade, gegenüber benehmen soll, mit dem er jetzt lieber nicht verfeindet sein möchte: ich muß ihm also heraushelfen; ich werde ihn daher vorladen wegen zu zahlender Kosten, die es gar nicht geben kann; er wird dann im Justizpalast erscheinen, wo la Peyrade alle Tage hinkommt; auf diese Weise kann er ihn ganz zufällig treffen und wäre vor einem direkten Schritt, der seine Eigenliebe
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