Die Kleinbürger (German Edition)
diesem Einarbeiten nicht die vollen Hingebung und Lust entwickelte, die er gewünscht hätte. Er merkte wohl, daß der Provenzale es in seinem Innern wie eine moralische Herabwürdigung ansah; mit der Zeit würde sich dieser Eindruck wohl verwischen, aber vorläufig hatte sich die erforderliche innere Festigkeit noch nicht bei ihm entwickelt.
Nachdem er eine Anzahl Briefe, die Berichte seiner Agenten enthielten, geöffnet hatte, überflog Corentin flüchtig die Auskünfte, die viel seltener, als man annehmen möchte, brauchbar waren; dann warf er sie achtlos in den Papierkorb, aus dem sie später zusammen verbrannt wurden. Nur einem der Berichte schien der große Mann eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken; während er ihn durchlas, huschte zuweilen ein Lächeln über seine Lippen, und als er ihn zu Ende gelesen hatte, reichte er das Manuskript la Peyrade hin und sagte zu ihm:
»Hier ist etwas, das Sie angeht; Sie werden sich überzeugen, daß wir auch in unserm anscheinend so ernsten Beruf manchmal einer Komödie begegnen. Lesen Sie laut, es wird uns erheitern.«
Bevor la Peyrade zu lesen begann, fügte Corentin noch hinzu:
»Sie müssen wissen, daß der Bericht von einem gewissen Henri verfaßt ist, den Frau Komorn bei Thuilliers untergebracht hatte.«
»Also«, sagte la Peyrade, »gehört es auch zu Ihren Maßnahmen, daß Sie Dienstboten für sich verwenden?«
»Zuweilen«, antwortete Corentin; »wenn man alles erfahren will, muß man alle Mittel gebrauchen; aber hierbei macht man häufig Fehlgriffe. Es trifft nicht zu, daß die Polizei zu gewissen Zeiten ein System daraus gemacht und mit einer vollständigen Liste von Lakaien und Kammermädchen das Familienleben wie mit einem Riesennetz überzogen hätte. Es gibt keine feststehenden Regeln für unser Handeln; wir richten uns nach der Zeit und nach den Umständen. Ich brauchte Ohren und Einfluß bei Thuilliers, deshalb hatte ich die Godollo auf sie losgelassen; sie ihrerseits brachte zu ihrer Unterstützung einen unserer Leute dort unter, einen intelligenten Burschen, wie Sie sehen werden; aber in einem andern Falle würde ich einen Diener, der mir die Geheimnisse seines Herrn verkaufen wollte, einstecken und dem Betroffenen eine Warnung zukommen lassen, auf die Zuverlässigkeit seiner Umgebung besser aufzupassen.«
»Sehr geehrter Herr Geheimer Polizeidirektor,« schrieb der gewisse Henri an Corentin, »ich bin nicht mehr bei dem kleinen Baron, denn dieser Mann tut nichts weiter, als sich zu amüsieren, und ich würde bei ihm nie etwas erfahren, was zu berichten wert wäre. Ich habe eine andere Stellung gefunden, wo ich bereits verschiedenes mit angesehen habe, das Sie, mit Rücksicht auf die Mission, die mir die Gräfin von Godollo anvertraut hatte, interessieren dürfte; ich beeile mich daher, es zu Ihrer Kenntnis zu bringen. Ich habe eine Stellung im Hause eines alten Gelehrten, namens Picot, erhalten, der an der Place Madeleine dasselbe erste Stockwerk des Hauses innehat, in dem früher meine alte Herrschaft, die Thuilliers, wohnte.«
»Was!« rief la Peyrade, die Lektüre unterbrechend, aus, »der Vater Picot, der zugrunde gerichtete alte Narr, wohnt in dieser Prachtwohnung?«
»Lesen Sie nur weiter!« sagte Corentin; »das Leben hat noch ganz andere Seltsamkeiten aufzuweisen; Sie werden die Erklärung dafür weiter unten erhalten; unser Korrespondent – sie haben alle den Fehler, daß sie im Detail ertrinken – setzt zu viele Punkte auf seine I.«
Der gewisse Henri schrieb weiter:
»Die Thuilliers haben vor kurzer Zeit ihre Wohnung aufgegeben und sind wieder in das Quartier Latin gezogen. Fräulein Brigitte hat es in den Prachträumen nie recht gefallen; bei ihrem vollkommenen Mangel an Erziehung fühlte sie sich dort unbehaglich. Von wegen daß ich mich deutlich ausdrücke, so nannte sie mich einen Redner und konnte auch Herrn Pascal, ihren Portier, nicht leiden, weil er, in Anbetracht daß er Küster der Madeleinekirche ist, ein anständiges Benehmen besitzt; selbst an den Händlern auf dem großen Markt hinter der Kirche, wo sie natürlich ihre Einkäufe machte, hatte sie immer etwas auszusetzen und schimpfte über ihre hochnäsige Art, weil sie kein so freches Maul wie die in der Markthalle haben, und weil sie sie auslachten, wenn sie etwas herunterhandeln wollte. Sie hat ihr Haus im ganzen an einen Herrn Cérizet vermietet, einen sehr häßlichen Menschen mit ganz zerfressener Nase, für einen jährlichen Mietpreis von
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