Die Kleinbürger (German Edition)
»Verzeihung, ich muß wieder auf das, was ich sagte, zurückkommen ... Aber, wie soll man kein Mitgefühl mit Schmerzen haben, die man selber empfindet, wenn man sieht, daß sie das Schicksal eines Wesens sind, dem das Leben nur Freude und Glück bescheren dürfte! ... Sie erdulden dasselbe wie ich, ich bin ebensowenig an meinem Platze wie Sie an dem Ihrigen: das gleiche Schicksal macht uns zu Bruder und Schwester! Ach, meine teure Flavia, der erste Tag, an dem es mir vergönnt war, Sie zu erblicken, das war der letzte Sonntag des Septembers i838 ... Sie waren so schön; ich werde Sie immer vor mir sehen, in diesem einfachen Mousselinedelaine-Kleide mit der Garnitur des Tartans irgendeines schottischen Clans! ... An diesem Tage habe ich mich gefragt: ›Was will diese Frau bei den Thuilliers, und vor allem, warum hat sie ein Verhältnis mit einem Menschen wie Thuillier gehabt?‹«
»Mein Herr!« ... sagte Flavia, erschreckt über die Wendung, die der Provenzale plötzlich dem Gespräche gab.
»Oh, ich weiß alles!« rief er achselzuckend aus; »Und mir ist auch alles erklärlich ... und ich achte Sie deshalb nicht geringer. Lassen Sie gut sein, Häßliche und Bucklige begehen solche Sünden nicht ... Sie aber, Sie müssen auch den Nutzen aus Ihrem Fehltritt ziehen können, und dabei will ich Ihnen helfen! Celeste wird einmal sehr reich sein, und auf dieser Grundlage ruht Ihre ganze Zukunft; Sie können nur einen Schwiegersohn haben, seien Sie klug genug, ihn richtig auszuwählen. Ein Ehrgeiziger würde es zum Minister bringen können, aber er würde Sie demütigen, Sie schikanieren und Ihre Tochter unglücklich machen; und verliert er sein Vermögen, dann wird er sicher kein neues erwerben. Ja, gewiß, ich liebe Sie mit grenzenloser Zuneigung; Sie sind über der Masse kleinlicher Bedenken, über die die Dummköpfe stolpern, erhaben. Verstehen wir uns. ..«
Flavia war verblüfft; aber sie hatte trotzdem Verständnis für die ungewöhnliche Freimütigkeit dieser Sprache und sagte sich: ›Er hält nicht hinterm Berge mit seiner Ansicht! ...‹ Aber sie mußte sich gestehen, daß sie noch niemals von jemandem so tief in Erregung versetzt worden war wie von diesem jungen Manne.
»Ich begreife nicht, Herr de la Peyrade, woher Sie diese irrige Ansicht über meine Vergangenheit haben, und mit welchem Rechte Sie ...
»Oh, Verzeihung, gnädige Frau,« unterbrach sie der Provenzale so kühl, daß es fast verächtlich klang, »ich habe geträumt. Ich habe mir gesagt: ›Alles dies ist sie‹, aber ich sehe, ich stoße auf Vorurteile. Ich weiß jetzt, warum Sie für immer in Ihrem vierten Stock dort oben in der Rue d'Enfer bleiben werden.«
Und er begleitete diese Worte mit einer energischen Handbewegung, indem er auf die Fenster der Collevilleschen Wohnung zeigte, die man von der Allee des Luxembourgparks, in der sie allein waren, sehen konnte, dieses riesigen Ackerfeldes, das schon von so vielen jungen ehrgeizigen Menschen bebaut worden war.
»Ich habe freimütig gesprochen, und ich erwartete von Ihnen das gleiche; ich habe mein Leben gefristet, die Rechte studiert und mein Examen in Paris gemacht, alles mit einem Kapital von zweitausend Franken, und ich habe die Stadt durch die Barriere d'Italie betreten mit fünfhundert Franken in der Tasche; aber ich habe mir dabei zugeschworen wie einer meiner Landsleute, eines Tages einer der ersten Männer meines Vaterlandes zu werden ... Und der Mann, der sich oft sein Essen aus den Körben zusammengesucht hat, in die die Restaurateure ihre Überreste werfen und die sie um sechs Uhr morgens vor der Tür ausschütten, wenn die Kleinhöker sie nicht haben wollen, solch ein Mann wird von keinem Mittel ... vor dem man nicht erröten muß, zurückschrecken. – Halten Sie mich etwa für einen Volksfreund? ...« sagte er lächelnd; »man muß ein Sprachrohr für sein Renommee haben; das kann man sich nicht mit geflüsterten Worten machen; ... und ohne Ruf, was kann die Begabung erreichen? Der Advokat der Armen wird einmal der Advokat der Reichen werden ... Habe ich Sie nun genügend in mein Innerstes blicken lassen? öffnen Sie mir Ihr Herz ... Sagen Sie zu mir: ›Wir wollen Freunde sein‹, und wir werden alle eines Tages glücklich werden ...«
»Mein Gott, warum bin ich hierher gekommen? Warum habe ich Ihnen den Arm gegeben? ...« rief Flavia aus.
»Weil das Ihr Schicksal ist!« erwiderte er. »Ach meine teure, heißgeliebte Flavia,« fuhr er fort und preßte ihren Arm an sein
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