Die Kleinbürger (German Edition)
gepeitscht, die wilde Jagd fortgesetzt und sich an dieses Spiel geklammert wie der Spieler an sein System, denn diese letzten Tage ihrer Schönheit sind für sie der letzte Einsatz des verzweifelten Hazardeurs.
»Sie sind geliebt, aber nicht angebetet worden!«
Dieses Wort Theodosius, von einem Blicke begleitet, der, wenn auch nicht in ihrem Herzen, so doch in ihrem Leben gelesen hatte, war die Lösung eines Rätsels, und Flavia fühlte sich durchschaut.
Der Advokat hatte nur einige Ideen wiedergegeben, die in der Literatur schon trivial geworden waren; aber was kommt es darauf an, aus welcher Fabrik die Reitpeitsche herstammt und was für eine Sorte es ist, wenn sie nur die empfindliche Stelle des Rassepferdes trifft! Das poetische Gefühl lag in Flavias Innerem und nicht in dem, was ihr Theodosius vorgesungen hatte, ebenso wie das Brausen nicht in der Flut steckt, wenn sie es auch erzeugt.
Ein junger Offizier, zwei nichtssagende Männer, ein unbeholfener kleiner Jüngling und der gute Colleville, das waren ihre traurigen Versuchsobjekte. Einmal in ihrem Leben hatte Frau Colleville von Glück geträumt, aber empfinden hatte sie es noch nicht können; dann hatte der Tod allzu schnell die einzige Neigung, bei der Flavia wirkliche Seligkeit empfunden hatte, vernichtet. Seit zwei Jahren vernahm sie die göttliche Stimme der Religion, die ihr verkündete, daß weder in der Kirche, noch in der menschlichen Gesellschaft von Glück und von Liebe die Rede ist, sondern von Pflicht und Resignation; daß für diese beiden großen Mächte das Glück in der Befriedigung ruht, die die Erfüllung mühseliger, schwer zu erfüllender Pflichten erzeugt, und daß die Belohnung nicht in dieser Welt erfolgt. Aber sie hörte noch eine andere laute Stimme in ihrem Innern, und da die Religion nur eine Maske für sie war, die sie notgedrungen vorbinden mußte, und nicht auf wirklicher Bekehrung beruhte, und weil sie sie nicht ablegte, da sie in ihr ein Hilfsmittel erblickte, und ihre falsche oder wahre Frömmigkeit nur ein äußerliches Kleid war, das sie ihren Zukunftshoffnungen anpaßte, so blieb sie in der Kirche, wie auf einer Bank im Walde an einem Kreuzwege, wo man die Aufschriften des Wegweisers liest, und mit dem Gefühl, daß bald die Nacht kommt, die Entscheidung dem Zufall überläßt.
So wurde auch ihre Wißbegier lebhaft erregt, als Theodosius ihr ihre den andern verborgene Lage klar machte, ohne dabei Ansprüche für sich geltend zu machen, sondern indem er sich allein an ihr inneres Empfinden wandte und ihr die Verwirklichung von Luftschlössern verhieß, die sich für sie schon sieben- oder achtmal in nichts aufgelöst hatten.
Seit Beginn des Winters hatte sie gemerkt, daß sie heimlich von Theodosius beobachtet und studiert wurde. Mehr als einmal hatte sie ihr graues Moiréekleid, ihre schwarzen Spitzen und ihren Kopfschmuck von mit Spitzen garnierten Blumen angelegt, um sich vorteilhaft zeigen zu können, und die Männer wissen immer recht gut, ob man für sie Toilette gemacht hat. Der gräßliche Beau der Kaiserzeit hatte sich in faden Schmeicheleien erschöpft, aber der Provenzale hatte mit einem verständnisvollen Blick tausendmal mehr gesagt.
Von einem Sonntag zum andern hatte Flavia auf eine Erklärung gewartet; sie sagte sich:
»Er weiß, daß ich nichts habe, und er selbst besitzt keinen Heller! Vielleicht ist er wirklich fromm.«
Theodosius wollte nichts überstürzen, und wie ein geschickter Musiker hatte er sich die Stelle seiner Partitur angestrichen, wo er das Zeichen zum vollen Einsatz geben wollte. Als er merkte, daß Colleville ihn bei Thuillier verdächtigte, hatte er, nach geschickter Vorbereitung während drei bis vier Monaten, die er auf das Studium Flavias verwandt hatte, seine Ladung abgeschossen, und es war ihm damit ebenso geglückt, wie am Morgen mit Thuillier.
Als er sich zu Bett legte, sagte er sich:
»Die Frau habe ich gewonnen, der Mann kann mich nicht leiden; jetzt, in diesem Augenblick werden sie sich zanken, aber ich werde der Stärkere sein, denn sie macht mit ihrem Manne, was sie will.«
Darin hatte sich der Provenzale allerdings getäuscht, denn es hatte nicht den geringsten Streit gegeben, und während er das zu sich sagte, schlief Colleville bereits neben seiner kleinen, süßen Flavia, welche dachte: ›Theodosius ist ein überlegener Mensch.‹
Bei vielen Männern wird ebenso wie bei la Peyrade, die Überlegenheit durch die Kühnheit oder die Schwierigkeit des Unternehmens
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