Die Kleinbürger (German Edition)
können. Man kann nicht zwanzig Jahre lang leere Säcke genäht haben, ohne nach der Möglichkeit zu suchen, einige davon zu füllen. Brigitte besaß die besondere Eigenschaft, daß sie Sparsamkeit, der man sein Vermögen verdankt, mit dem Verständnis für notwendige Ausgaben zu vereinigen wußte. Ihre verhältnismäßig große Freigebigkeit, sobald es sich um ihren Bruder oder um Celeste handelte, stand im Gegensatz zu ihrem Geiz. Sie beklagte deshalb auch häufig, daß sie nicht geizig sei. Bei dem letzten Diner hatte sie erzählt, daß sie, nach einem Kampfe von zehn Minuten mit sich, und nachdem sie Höllenqualen ausgestanden hatte, schließlich zehn Franken einer armen Arbeiterin ihres Viertels geschenkt hatte, von der sie sicher wußte, daß sie seit zwei Tagen nichts gegessen hatte.
»Das Mitgefühl war stärker als die Vernunft«, sagte sie naiv.
Die Suppe war eine fast klare Bouillon; selbst bei solchen Gelegenheiten hatte die Köchin den Auftrag, dünne Bouillon zu kochen, denn da die Familie das Rindfleisch am nächsten und übernächsten Tag essen sollte, so war es um so besser, je weniger ausgekocht es auf dem Tisch kam; es wurde daher stets, wenn Thuillier es zu tranchieren begann, auf Brigittes Wink wieder abgetragen, die sagte:
»Ich glaube, es ist etwas zäh; also laß es sein, Thuillier, es wird es doch niemand essen, wir haben ja genug anderes!«
Neben der Bouillon wurden auch noch vier Schüsseln auf alten Rechauds, von denen die Versilberung abgegangen war, aufgetragen. Der erste Gang dieses Diners, des sogenannten Kandidatur-Diners, bestand aus zwei Enten mit Oliven, einer ziemlich großen Fleischpastete mit Klößchen, Aal à la Tartare und einem Kalbsfricandeau mit Chicorè-Gemüse. Das Hauptstück des zweiten Ganges war eine herrliche Gans mit Maronen gefüllt. Dazu ein Salat, ›de mâche‹ mit Scheiben von roten Rüben garniert, Cremetöpfen, gezuckerten Kohlrüben und einer Schüssel Makkaroni. Dieses Diner eines Portiers, der ein Hochzeitsfest feiert, kostete höchstens zwanzig Franken, und von dem, was übrigblieb, lebte das Haus noch zwei Tage; Brigitte aber sagte: »Ja, bei solchen Einladungen fliegt das Geld nur so weg ... es ist schrecklich!«
Der Tisch war von zwei abscheulichen vierarmigen Leuchtern aus versilbertem Kupfer erhellt, auf denen billige, sogenannte »Aurorakerzen« brannten. Das Tischzeug war von blendender Weiße, das alte Silber mit Fadenmuster ein väterliches Erbstück, das der alte Thuillier in der Revolutionszeit gekauft und in dem geheimen Restaurant benutzt hatte, das in seiner Dienstwohnung eingerichtet war, aber im Jahre 1816 ebenso wie in allen andern Ministerien, abgeschafft wurde. So paßte das Essen zu dem Hause und zu den Thuilliers, die sich über diesen Zuschnitt nicht zu erheben vermochten. Die Minards, Colleville und la Peyrade wechselten einige lächelnde Blicke, die ihre gemeinsamen spöttischen, aber zurückgehaltenen Gedanken verrieten. Ihnen war der vornehmere Luxus bekannt, und die Minards verrieten ihre Hintergedanken deutlich genug, wenn sie die Einladung zu einem solchen Diner annahmen. La Peyrade, der neben Flavia saß, sagte leise zu ihr: »Gestehen Sie, daß es sehr nötig ist, den Leuten Lebensart beizubringen! Aber diese Minards! Was für eine scheußliche Geldgier! Ihr Kind wäre da für immer für Sie verloren; diese Parvenüs haben die Laster der alten Grandseigneurs, aber ohne deren Eleganz. Ihr Sohn mit seinen zwölftausend Franken Rente kann recht gut in jeder Familie eine Frau finden und braucht nicht hierher zu kommen und auf das Einscharren des Geldes zu spekulieren. Was ist das für ein Spaß, auf diesen Leuten zu spielen, wie auf einer Baßgeige oder einer Klarinette!«
Flavia hörte ihm lächelnd zu und zog auch ihren Fuß nicht zurück, den Theodosius leise mit den seinigen drückte.
»Damit ich Sie in Kenntnis von dem, was vorgeht, setzen kann,« sagte er, »wollen wir uns mit dem Pedal verständigen; seit heute morgen müssen Sie mich durch und durch kennen, ich bin kein Mann, der kleine Scherze macht ...«
In bezug auf geistige Überlegenheit war Flavia nicht verwöhnt; der kategorische und freie Ton Theodosius' blendete die Frau, mit der der gewandte Zauberkünstler in einen Kampf getreten war, wo es für sie nur ein Ja oder ein Nein gab. Man mußte ihn rückhaltlos anerkennen oder ablehnen; und da sein Verhalten ein wohl berechnetes war, so verfolgte er mit freundlichen Blicken aber scharfer Aufmerksamkeit
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