Die Kleinbürger (German Edition)
wieder nach einer Pause, in der sich Schwiegersohn und Schwiegermutter umarmt hatten, »muß ich das Terrain auskundschaften. Sie dürfen sich dort nicht vom Fleck rühren; Sie werden dem Portier sagen, daß Sie einen Arzt erwarten. Dieser Arzt werde ich sein, Sie dürfen aber nicht merken lassen, daß Sie mich kennen.«
»Bist du ein gerissener Kerl!« sagte die alte Cardinal und gab Cérizet zum Abschied einen Klaps auf den Bauch.
Eine Stunde später erschien Cérizet, schwarz gekleidet, mit einer roten Perücke und einem kunstvoll veränderten Gesicht in einem Mietwagen in der Rue Honoré-Chevalier. Er ersuchte den Portierschuster, ihm zu zeigen, wo ein Armer namens Toupillier wohnte.
»Ist der Herr der Arzt, den Frau Cardinal erwartet?«
Cérizet hatte sich inzwischen doch überlegt, daß diese Rolle schwer durchzuführen sei, und vermied es, zu antworten.
»Geht es hier hinauf?« fragte er und wandte sich nach irgendeiner Seite des Hofes.
»Nein, mein Herr«, antwortete der edle Perrache und zeigte ihm eine Hintertreppe, die zu der Mansarde, die der Bettler bewohnte, hinaufführte.
Dem neugierigen Portier blieb nur die Möglichkeit, den Kutscher des Mietwagens auszufragen, und wir überlassen ihn der Beschäftigung, in dieser Richtung sich Auskünfte zu verschaffen.
Das Haus in dem Toupillier wohnte, war eins von denen, die dazu verurteilt sind, auf Grund des Fluchtlinienplans die Hälfte ihrer Tiefe zu verlieren, denn die Rue Honoré-Chevalier ist eine der schmalsten Straßen des Viertels Saint-Sulpice. Der Besitzer, dem es untersagt war, weitere Stockwerke aufzusetzen oder Reparationen zu machen, sah sich genötigt, die Baracke in dem Zustande, in dem er sie gekauft hatte, zu vermieten; das Haus hatte eine außerordentlich häßliche Straßenfassade und bestand aus einer ersten Etage mit Mansarden über einem Erdgeschoß und einem kleinen rechtwinklig anstoßenden Seitenflügel an jeder Seite. Der Hof grenzte an einen Garten mit Bäumen, der zur Wohnung der ersten Etage gehörte. Dieser Garten, der gegen den Hof mit einem Gitter abgeschlossen war, hätte einem wohlhabenden Besitzer gestattet, das Haus der Stadt zu verkaufen und auf dem Hofterrain ein anderes zu bauen; aber der ganze erste Stock war auf achtzehn Jahre an eine mysteriöse Persönlichkeit vermietet, über die weder das offizielle Nachspüren des Portiers noch die Neugierde der übrigen Mieter irgend etwas hatte herausbekommen können.
Dieser Mieter, ein Mann von sechsundsechzig Jahren, hatte im Jahre 1829 an einem Fenster des Seitenflügels eine Wendeltreppe anbringen lassen, die in den Garten führte, um direkt hinuntergehen und dort promenieren zu können, ohne den Hof passieren zu müssen. Die eine Hälfte des Erdgeschosses war von einem Buchhefter besetzt, der seit zehn Jahren die Remisen und Pferdeställe in Arbeitsräume verwandelt hatte, die andere Hälfte von einem Buchbinder. Beide bewohnten die nach der Straße zu gelegenen Mansarden. Die Mansarden des einen Seitenflügels gehörten zu der Wohnung der mysteriösen Persönlichkeit. Toupillier schließlich zahlte hundert Franken für den Dachboden über dem kleinen Seitenflügel zur Linken, zu dem man auf einer Treppe gelangte, die nur an wenigen Tagen Licht hatte. Der Torweg hatte die runde Vertiefung, die in einer engen Straße, in der zwei Wagen einander nicht ausweichen können, unentbehrlich ist.
Cérizet hielt sich an einem Seil, das als Geländer diente, um eine Art Leiter hinaufzusteigen, die zu dem Zimmer führte, in dem der Hundertjährige im Sterben lag; dieses Zimmer bot den abscheulichen Anblick fingierter Armut dar.
In Paris wird alles, was in besonderer Absicht geschieht, vortrefflich aufgemacht. Die Bettler sind darin ebenso geschickt wie die Kaufleute mit ihren Schaufenstern und die angeblich reichen Leute, die Kredit suchen.
Der Fußboden war niemals gereinigt worden; die Dielen waren unsichtbar unter einer Schicht von Schmutz, Staub, getrocknetem Kot und allem, was Toupillier wegwarf. Ein elender gußeiserner Ofen, dessen Rohr durch den Spiegel über einem zugemauerten Kamin ging, war das am meisten ins Auge fallende Möbelstück in diesem Loch; in einem Alkoven stand ein sargähnliches Bett mit Vorhängen aus grünem Serge, in den die Motten ein Spitzenmuster gefressen hatten. Das fast blinde Fenster hatte von einer Schmutzkruste überzogene Scheiben, die die Vorhänge entbehrlich machte. Die weißgetünchten Wände waren von den Stein- und Holzkohlen, mit
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