Die Kleinbürger (German Edition)
moralische Gefühl schon den Gedanken an ein Verbrechen ausschließt: Die Jesuiten fordern diesen erhabenen Zustand, wie er in den ersten Zeiten der Kirche verwirklicht war; das zweite ist der Zustand einer anderen Zivilisation, wo die gegenseitige Wachsamkeit der Bürger das Verbrechen unmöglich macht. Das Ziel, das die moderne Gesellschaft anstrebt, ist das, wo eine Missetat auf solche Schwierigkeiten stößt, daß der, der sie begehen will, tatsächlich den Verstand verloren haben muß. In Wahrheit bleibt wirklich selbst ein Unrecht, das vom Gesetze nicht betroffen wird, nicht ungesühnt, und das Urteil der Gesellschaft ist sogar strenger als das Urteil der Gerichte. Wenn jemand, wie Minoret, der Postmeister von Nemours, ein Testament ohne Zeugen vernichten will, so wird ein solches Verbrechen durch das Aufpassen der ehrlichen Leute ebenso an den Tag gebracht, wie ein Diebstahl von der Polizei. Keine Roheit bleibt unbemerkt, überall, wo jemand geschädigt worden ist, bleibt eine greifbare Spur zurück. Man kann ebensowenig Sachen wie Menschen verschwinden lassen, so genau sind, besonders in Paris, die Objekte gezählt, die Häuser bewacht, die Straßen beobachtet, die Plätze unter Aufsicht. Um unbelästigt zu bleiben, muß ein Delikt sanktioniert werden, wie es die Börse macht und die Kundschaft Cérizets, die sich nicht beklagt und entsetzt sein würde, wenn sie ihren Menschenschinder nicht am Dienstag in seiner Küche vorfände.
»Nun, lieber Herr,« sagte die Portiersfrau, die Cérizet entgegenging, »wie geht es diesem Kinde Gottes, diesem armen Manne? ...«
»Ich bin kein Arzt,« antwortete Cérizet, der nun entschlossen war, seine Rolle zu wechseln; »ich bin der Sachwalter der Frau Cardinal; ich habe ihr eben empfohlen, ihr Lager hier aufzuschlagen, damit sie Tag und Nacht zur Pflege ihres Onkels zur Hand sein kann, aber vielleicht ist noch eine Wärterin nötig.«
»Ich könnte das gut machen,« sagte Frau Perrache, »ich war schon Wärterin bei Wöchnerinnen.«
»Nun, wir wollen sehen,« sagte Cérizet, »ich werde das ordnen ... Wer wohnt denn hier im ersten Stock?«
»Herr du Portail ... Oh, der wohnt hier schon seit dreißig Jahren; er ist Rentier, lieber Herr, ein alter sehr respektabler Mann ... Die Rentiers leben, wie Sie wissen, von ihren Renten ... er war früher ein Geschäftsmann. Seit bald elf Jahren bemüht er sich, die Tochter eines seiner Freunde, Fräulein Lydia de la Peyrade, heilen zu lassen. Sie wird sehr sorgfältig behandelt, sehen Sie, und zwar von den beiden berühmtesten Ärzten, erst heute morgen haben sie hier eine Konsultation gehabt ... Aber bis jetzt haben sie sie noch nicht gesund machen können, und sie muß sehr sorgsam bewacht werden, denn sie steht nachts auf ...«
»Fräulein Lydia de la Peyrade?« rief Cérizet; »sind Sie sicher, daß sie so heißt?«
»Frau Katt, ihre Gouvernante, die auch das bißchen Küche bei ihnen besorgt, hat es mir tausendmal gesagt, sowenig auch im allgemeinen Herr Bruno, der Bediente, und Frau Katt reden. Es ist, als ob man zu einer Mauer spricht, wenn man etwas von ihnen erfahren will ... Seit zwanzig Jahren haben wir hier die Portierstelle, aber nie haben wir etwas über Herrn du Portail hören können. Und was noch mehr ist, lieber Herr, ihm gehört das kleine Haus nebenan; sehen Sie da die Hintertür? Nun, da kann er nach Belieben hinausgehen und Leute bei sich empfangen, ohne daß wir etwas davon wissen. Unser Hausbesitzer weiß auch nicht mehr darüber als wir; wenn man an der Hintertür klingelt, dann geht der Herr Bruno öffnen ...«
»Sie haben also,« sagte Cérizet, »auch den Herrn nicht hereinkommen sehen, mit dem sich der alte Geheimkrämer dort unterhält?«
»Sieh mal einer an! Aber nein ...«
»Das ist eine Tochter des Onkels von Theodosius«, sagte sich Cérizet, als er wieder in seinen Wagen stieg. »Sollte du Portail der Gönner sein, der seiner Zeit die zweitausendfünfhundert Franken meinem lieben Freunde geschickt hat? ... Wenn ich diesem Alten einen anonymen Brief schickte und ihn von der Gefahr in Kenntnis setzte, die der Herr Advokat wegen der Wechsel über fünfundzwanzigtausend Franken läuft?«
Eine Stunde später erschien ein Gurtbett mit allem Zubehör für Frau Cardinal, der die neugierige Portiersfrau ihre Dienste für die Bereitung des Essens anbot.
»Soll ich den Herrn Pfarrer holen?« fragte die Mutter Cardinal den Onkel.
Sie hatte bemerkt, daß die Ankunft des Bettes ihn aus seiner
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