Die Kleinbürger (German Edition)
berichtet, »und da Sie die Einzige waren, die noch an ihn dachte und ihm ab und zu Fische brachten und ihn besuchten, wird er vielleicht Ihnen was vermacht haben ... Meine Frau hat ihn die letzten Tage gepflegt und bei ihm gewacht; sie hat ihm von Ihnen gesprochen, aber er hat nicht haben wollen, daß man Ihnen sagt, daß er krank ist ... Hören Sie, es ist Zeit, daß Sie sich bei ihm sehen lassen. Es ist wahrhaftig schon zwei Monate her, daß er nicht mehr sein Geschäft betreiben kann.«
»Sie können sicher sein, Sie alter Lederkratzer,« hatte die Mutter Cardinal dem Portier, der seines Zeichens ein Schuster war, geantwortet, während sie mit höchster Schnelligkeit in die Rue Honoré-Chevalier eilte, wo ihr Onkel in einer scheußlichen Mansarde hauste, »daß mir eher Haare auf der flachen Hand wachsen, als daß ich von so was eine Ahnung gehabt hätte ! ... Was?! Mein Onkel Toupillier ist ein reicher Mann? Der arme Bettler vor der Kirche Saint-Sulpice?«
»Oh,« hatte der Portier bemerkt, »er aß recht gut ... und alle Abend legte er sich mit seiner Geliebten, einer großen Flasche Roussillon, zu Bett. Meine Frau hat den Wein gekostet; uns hat er immer gesagt, es wäre ein billiger Krätzer. Der Weinhändler in der Rue de Canettes hat ihn ihm geliefert.«
»Reden Sie nicht weiter von all diesen Sachen, mein Bester,« hatte die Witwe Cardinal gesagt, als sie sich von dem Portier trennte, der ihr diese Nachricht gebracht hatte, »ich werde an Sie denken, ... wenn überhaupt was da ist.«
Dieser Toupillier, ein früherer Tambourmajor der französischen Garde, war zwei Jahre vor 1789 in den Dienst der Kirche getreten und Kirchendiener von Saint-Sulpice geworden. Die Revolution hatte ihn um seine Stellung gebracht, und er war in die furchtbarste Armut geraten. Er mußte damals Modell stehen, denn er war eine schöne Erscheinung.
Als die Kirchen wieder geöffnet wurden, hatte er seine Hellebarde wieder in die Hand genommen; aber im Jahre 1816 wurde er abgesetzt, ebenso seines unmoralischen Lebenswandels, wie seiner politischen Ansichten wegen: er galt für einen Bonapartisten. Trotzdem duldete man ihn an der Kirchentür, wo er die Kirchenbesucher mit Weihwasser besprengte. Später beraubte ihn eine unangenehme Affäre, von der wir gleich reden werden, auch des Weihwedels; aber da er immer noch eine Möglichkeit fand, sich an die Kirche anzuklammern, setzte er es durch, daß er als Bettler an der Kirchentüre geduldet wurde. Zu dieser Zeit war er zweiundsiebzig Jahr alt, behauptete aber sechsundneunzig zu sein und begann, die Rolle des Hundertjährigen zu spielen.
In ganz Paris wäre es unmöglich gewesen, einen zweiten Bart- und Haarwuchs, wie den Toupilliers, aufzutreiben. Er schleppte sich wie zerbrochen an einem Stock in der zitternden Hand fort, die mit Flechten, wie sie auf Granitsteinen wachsen, bedeckt war, und streckte den klassischen, fettigen, breitrandigen, geflickten Bettlerhut hin, in den überreichlich Almosen geworfen wurden. Seine mit Binden und Lumpen umwickelten Beine staken in scheußlichen Bastschuhen, die aber innen mit vorzüglichen Sohlen aus Pferdehaar versehen waren. Das Gesicht hatte er mit Ingredienzien beschmiert, die die Spuren schwerer Krankheiten und Runzeln vortäuschten, und so spielte er vortrefflich die Rolle des Hundertjährigen. Als solchen bezeichnete er sich seit dem Jahre 1830, während er in Wirklichkeit erst ein Achtzigjähriger war. Er war der Oberst der Bettler, der Beherrscher des Platzes vor der Kirche, und alle, die unter den Arkaden dort, geschützt vor der Polizei und unter der Protektion des Kirchendieners, des Küsters, des Weihwasserbesprengers und überhaupt des Pfarramts betteln wollten, zahlten ihm eine Art Tribut.
Wenn ein Erbe, ein Bräutigam nach der Trauung, oder ein Pate beim Heraustreten sagte: »Das ist für alle, es soll bei den andern nicht gebettelt werden«, dann steckte Toupillier, der von dem Kirchendiener, seinem Nachfolger, vorgeschoben wurde, dreiviertel der milden Gaben in seine Tasche und ließ seinen Genossen, deren Tribut sich auf einen Sou pro Tag belief, nur ein Viertel. Das Geld und der Wein waren seine letzten Leidenschaften: aber er beschränkte die zweite und gab sich ganz der ersten hin, ohne jedoch auf sein Wohlleben zu verzichten. Trinken tat er abends, nach dem Essen, wenn die Kirche geschlossen war; seit zwanzig Jahren war er in den Armen der Trunkenheit, seiner letzten Geliebten, eingeschlafen.
Frühmorgens, wenn der Tag
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