Die kleine Hexe
Schützen hoch.
„Auf den Ochsen mit ihm! Auf den Ochsen!"
„Mich auch!rief die Vroni.
„Komm rauf!", sagte Thomas. „Es ist ja auch dein Ochse!"
Wenn es nach ihnen gegangen wäre, so hätten die beiden auch gleich noch die kleine Hexe heraufgeholt, auf den Rücken des Ochsen Korbinian. Aber die wollte nicht, Thomas und Vroni mussten allein auf dem Ochsen zur Stadt reiten.
Vorneweg zog die Schützenkapelle und blies einen lustigen Marsch nach dem anderen. Hintennach folgten mit sauren Mienen der Hauptmann und seine Schützen. Die Leute winkten begeistert und riefen: „Bravo! Hoch lebe der Schützenkönig!"
Ein Herr von der Zeitung drängte sich unterwegs an die Kinder heran. Er schlug das Notizbuch auf, zückte den Bleistift und fragte: „Wann soll nun der Ochse gebraten werden?"
„Der Ochse wird überhaupt nicht gebraten", entgegnete Thomas. „Der kommt in den Stall und dort bleibt er."
Die Glocken klangen, die Böller knallten und niemand bemerkte die kleine Hexe, die hinter dem Festzelt zufrieden auf ihren Besen stieg und davonritt.
„Das ist dir mal wieder gelungen!", lobte Abraxas. „Ich denke, du hast deine Freitagshexerei damit wettgemacht."
Der Maronimann
Es war Winter geworden. Um das Hexenhaus heulte der Schneesturm und rüttelte an den Fensterläden. Der kleinen Hexe machte das wenig aus. Sie saß nun tagaus, tagein auf der Bank vor dem Kachelofen und wärmte sich den Rücken. Ihre Füße steckten in dicken Filzpantoffeln. Von Zeit zu Zeit klatschte sie in die Hände - und jedes Mal, wenn sie klatschte, sprang eines der Holzscheite, die in der Kiste neben dem Ofen lagen, von selbst in das Feuerloch. Wenn sie aber gerade einmal Appetit auf Bratäpfel hatte, so
brauchte sie nur mit den Fingern zu schnalzen. Da kamen sofort ein paar Äpfel aus der Vorratskammer gerollt und hüpften ins Bratrohr.
Dem Raben Abraxas gefiel das. Er versicherte immer wieder aufs Neue: „So lässt sich der Winter ganz gut aushalten!"
Aber die kleine Hexe verlor mit der Zeit allen Spaß an dem faulen Leben. Eines Tages erklärte sie missmutig: „ Soll ich vielleicht den ganzen Winter lang auf der Ofenbank sitzen und mir den Rücken wärmen? Ich brauche mal wieder Bewegung und frische Luft um die Nase. Komm, lass uns ausreifen!"
„Was!", rief Abraxas entsetzt. „Wofür hältst du mich eigentlich? Bin ich ein Eisvogel? Nein, diese Lausekälte ist nichts für mich! Besten Dank für die Einladung! Bleiben wir lieber daheim in der warmen Stube!"
Da sagte die kleine Hexe: „Na schön, wie du willst! Von mir aus kannst du zu Hause bleiben, dann reite ich eben allein. Vor der Kälte ist mir nicht bange, ich werde mich warm genug anziehen."
Die kleine Hexe zog sieben Röcke an, immer einen über den anderen. Dann band sie das große wollene Kopftuch um, fuhr in die Winterstiefel und streifte sich zwei Paar Fäustlinge über. So ausgerüstet, schwang sie sich auf den Besen und flitzte zum Schornstein hinaus.
Bitterkalt war es draußen! Die Bäume trugen dicke, weiße Mäntel. Moos und Steine waren unter dem
Schnee verschwunden. Hie und da führten Schlittenspuren und Fußstapfen durch den Wald.
Die kleine Hexe lenkte den Besen zum nächsten Dorf. Die Höfe waren tief eingeschneit. Der Kirchturm trug eine Pudelmütze von Schnee. Aus allen Schornsteinen stieg der Rauch auf. Die kleine Hexe hörte im Vorüberreiten, wie die Bauern und ihre Knechte in den Scheunen das Korn droschen: Rum-pum-pum, rum-pum-pum.
Auf den Hügeln hinter dem Dorf wimmelte es von Kindern, die Schlitten fuhren. Auch Skifahrer waren darunter. Die kleine Hexe sah ihnen zu, wie sie um die Wette bergab sausten. Kurze Zeit später kam auf der Straße ein Schneepflug gefahren. Dem folgte sie eine Weile nach; dann schloss sie sich einem Schwärm Krähen an, der zur Stadt flog.
Ich will in die Stadt hineingehen, dachte sie, um mich ein wenig warm zu laufen, Inzwischen war es ihr nämlich trotz der sieben Röcke und zwei Paar Fäustlinge jämmerlich kalt geworden.
Den Besen brauchte sie diesmal nicht zu verstecken, sie schulterte ihn. Nun sah sie aus wie ein ganz gewöhnliches altes Mütterchen, das zum Schneeräumen ging. Niemand, der ihr begegnete, dachte sich etwas dabei. Die Leute hatten es alle eilig und stapften mit eingezogenen Köpfen an ihr vorüber.
Gar zu gern hätte die kleine Hexe wieder einmal einen Blick in die Schaufenster der Geschäfte geworfen. Aber die Scheiben waren ganz mit Eisblumen bedeckt. Der Stadtbrunnen war
Weitere Kostenlose Bücher