Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raymond Chandler
Vom Netzwerk:
nicht, daß ich das alles für Ihre zwanzig Dollar tue, oder?«
    Sie warf mir einen abwägenden, plötzlich recht kühlen Blick zu. »Wofür denn dann?«
    Und dann, als ich nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Weil es nach Frühling riecht?«
    Ich antwortete immer noch nicht. Sie wurde ein bißchen rot. Dann kicherte sie.
    Ich hatte nicht den Mumm, ihr zu sagen, daß ich ganz einfach gelangweilt war vom Nichtstun. Vielleicht war es auch wirklich der Frühling. Und etwas in ihren Augen, das viel älter als Manhattan, Kansas, war.
    »Ich finde Sie sehr nett - ehrlich«, sagte sie leise. Dann drehte sie sich schnell um, fast rannte sie aus dem Büro. Draußen auf dem Gang machten ihre Schritte winzige, scharfe Pick-Geräusche, etwa wie wenn Mutter auf die Eßtischkante klopft, wenn Vater verstohlen nach einem zweiten Stück Kuchen langen will. Wo er doch kein Geld mehr hat. Kein Garnichts. Wo er bloß in seinem Schaukelstuhl sitzt, auf der Veranda hinten in Manhattan, Kansas, mit seiner leeren Pfeife im Mund. Auf der Veranda schaukelt, langsam, vorsichtig, denn nach einem Schlaganfall muß man alles langsam tun und vorsichtig. Und auf den nächsten
    warten. Und mit der leeren Pfeife im Mund. Ohne Tabak. Nichts tun, nur warten.
    Ich steckte Orfamay Quests zwanzig sauer verdiente Dollars in einen Umschlag, schrieb , ihren Namen drauf und warf ihn in die Schreibtischschublade. Die Idee war mir nicht angenehm, mit so einem Haufen Geld in der Gegend herumzulaufen.

3
    Man konnte Bay City schon lange kennen, ohne die Idaho Street zu kennen. Und man konnte viel von der Idaho Street kennen und doch nicht die Nummer 449. Die Straßenseite davor hatte ein kaputtes Pflaster und war fast wieder zu Erde geworden.
    Der verbogene Zaun eines Holzlagers grenzte an das aufgebrochene Trottoir auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Einen halben Block weiter oben bogen die rostigen Geleise einer Feldbahn ab und auf ein hohes Holzgatter zu, das zugekettet und anscheinend seit zwanzig Jahren nicht mehr geöffnet worden war. Kleine jungen hatten mit Kreide auf das Gatter und den Zaun geschrieben und Bilder gemalt.
    No- 449 hatte vorne eine flache, farblose Veranda, darauf räkelten sich fünf liederliche Schaukelstühle aus Rohr; etwas Draht und die Feuchtigkeit der Strandluft hielten sie zusammen. Die grünen Jalousien der unteren Fenster des Hauses waren zu zwei Dritteln heruntergezogen und voller Risse. Neben der Eingangstür war ein großes Schild mit Druckschrift >Keine Zimmer frei<. Es war auch schon lange dort. Es war ausgebleicht und voll Fliegendreck. Durch die Tür kam man in einen langen Vorplatz, nach dem ersten Drittel der Länge gingen Treppen nach oben. Rechts war ein schmales Bord, mit einem Kopierstift an einer Kette. Da waren ein Klingelknopf und ein gelb und schwarzes Schild mit der Inschrift >Verwalter< darüber, mit drei Reißnägeln befestigt, von denen keine zwei gleich waren. Gegenüber an der Wand war ein Münztelefon.
    Ich drückte die Klingel. Irgendwo in der Nähe klingelte es, aber es passierte nichts. Ich klingelte nochmals. Das gleiche Nichts passierte. Ich wanderte weiter bis zu einer Tür mit einem schwarzweißen Metallschild >Verwalter<. Da klopfte ich dran. Dann trat ich mit dem Fuß dagegen. Es schien niemanden zu stören, daß ich mit dem Fuß dagegen trat.
    Ich ging wieder aus dem Haus und an der Seite entlang, wo ein schmaler Betonweg zum Lieferanteneingang führte. Es sah aus, als wäre er an der Stelle, wo auch die Wohnung des Verwalters war. Alles andere in dem Haus bestand wohl nur aus Zimmern. Ein schmutziger Mülleimer stand dort auf einer kleinen Veranda und eine Holzkiste voller Schnapsflaschen. Die rückwärtige Tür, hinter dem Fliegengitter, war offen. Innen war es düster. Ich legte mein Gesicht an das Gitter und lugte hinein. Durch die offene Innentür, auf der gegenüberliegenden Seite vom Lieferanteneingang, sah ich einen einfachen Stuhl, über der Lehne hing ein Männerjackett, und auf dem Stuhl saß ein Mann in Hemdsärmeln mit einem Hut auf. Es war ein kleiner Mann. Ich konnte nicht erkennen, was er machte, aber offenbar saß er am Ende des eingebauten Frühstückstisches in der Frühstücksnische.
    Ich schlug auf die Tür mit dem Gitter. Der Mann kümmerte sich nicht drum. Ich schlug nochmals drauf, fester. Diesmal kippte er seinen Stuhl nach hinten und wandte mir ein schmales Gesicht zu, mit einer Zigarette drin. »Was willste?« bellte er.
    »Verwalter.«
    »Nicht da,

Weitere Kostenlose Bücher