Die Klinge der Träume
glaubte sie, dass die Leute ihre Stirn anstarrten, etwas sahen, das sie selbst nicht sehen konnte. Das war unmöglich, irrational, doch der Gedanke schlich sich immer wieder bei ihr ein, ganz egal, wie oft sie ihn verjagte. Mit der Hand, die die Nachricht von dem Wandteppich hielt, wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, dann holte sie die anderen beiden Nachrichten, die sie eingesammelt hatte, aus ihrer Gürteltasche und begab sich zu dem Schreibtisch an der Wand.
Es war ein einfacher Tisch, schmucklos wie alle ihre Möbel; vermutlich hatten die Handwerker einige davon ohne großen Einsatz gezimmert. Eine triviale Sache, solange Möbel die ihnen zugedachte Aufgabe erfüllten, spielte nichts weiter eine Rolle. Sie warf die drei Nachrichten neben einer kleinen gehämmerten Kupferschale auf den Tisch, holte einen Schlüssel aus der Gürteltasche, schloss eine mit Messingbändern beschlagene Truhe auf, die neben dem Tisch auf dem Boden stand, stöberte in den mit Leder eingebundenen Büchern darin herum, bis sie die drei gefunden hatte, die sie brauchte; jedes davon war beschützt, sodass die Tinte auf ihren Seiten verschwinden würde, wenn eine andere Hand außer der ihren sie berührte. Es wurden viel zu viele Chiffren benutzt, als dass sie sie sich hätte merken können. Diese Bücher zu verlieren wäre ausgesprochen unerfreulich gewesen, sie zu ersetzen sehr mühsam, daher die stabile Truhe und das Schloss. Ein sehr gutes Schloss. Gute Schlösser waren keine Trivialität.
Hastig wickelte sie die dünnen Papierstreifen ab, in die die Nachrichten eingewickelt waren, die sie hinter den Wandteppichen hervorgeholt hatte, hielt sie an eine Lampenflamme und warf sie in die Schüssel, damit sie dort verbrennen konnten. Das waren bloß Anweisungen, wo die Nachricht hinterlassen werden sollte, eine für jede Frau in der Kette. Die zusätzlichen Streifen sollten lediglich verschleiern, durch wie viele Hände die Nachricht ging, um ihre eigentliche Empfängerin zu erreichen. Es war unmöglich, zu viele Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Nur drei Schwestern des Hohen Rates kannten ihre Identität; sie hätte das lieber vermieden, wäre das möglich gewesen. Man konnte nie vorsichtig genug sein, vor allem jetzt.
Die Botschaft war, nachdem sie sie entschlüsselt und auf ein anderes Blatt übertragen hatte, so ziemlich das, was sie erwartet hatte, seit Talene am vergangenen Abend nicht gekommen war. Die Frau hatte das Quartier der Grünen früh am Vortag mit ausgebeulten Satteltaschen und einer kleinen Truhe verlassen. Sie hatte sie keinem Diener übergeben, sondern sie selbst getragen. Niemand schien zu wissen, wo sie hin war. Nun stellte sich die Frage, ob der Ruf vor den Hohen Rat sie in Panik versetzt hatte oder etwas anderes dahintersteckte? Alviarin war davon überzeugt, dass es Letzteres war. Talene hatte Yukiri und Doesine angesehen, als würde sie etwas erwarten… konnten es Anweisungen sein? Sie war überzeugt, es sich nicht eingebildet zu haben. Oder doch? Ein sehr kleiner Hoffnungsfunke. Da musste es mehr geben. Sie brauchte eine Bedrohung der Schwarzen, oder der Große Herr würde seinen Schutz zurücknehmen. Wütend riss sie die Hand von der Stirn. Sie kam gar nicht auf den Gedanken, das kleine Ter'angreal zu benutzen, das sie versteckt hatte, um Mesaana zu rufen. Zum einen, sehr wichtig, die Frau wollte sie bestimmt töten, und das vermutlich trotz des Schutzes des Großen Herrn. Auf der Stelle, sobald es diesen Schutz nicht länger gab. Sie hatte Mesaanas Gesicht gesehen, wusste über ihre Demütigung Bescheid. Keine Frau würde das einfach übergehen, vor allem keine der Auserwählten. Jede Nacht träumte sie davon, Mesaana zu töten, hatte Tagträume darüber, wie sie das schaffen sollte, aber das musste warten, bis sie ihre Identität herausgefunden hatte, ohne dass die Auserwählte es bemerkte. In der Zwischenzeit brauchte sie mehr Beweise. Es war durchaus möglich, dass weder Mesaana noch Schaidar Haran Talenes Verhalten als Bestätigung reichten. Schwestern waren auch schon in der Vergangenheit in Panik geraten und geflohen, auch wenn das nur selten vorkam, und die Annahme, dass Mesaana und der Große Herr das nicht wussten, war gefährlich.
Sie führte die chiffrierte Nachricht und die Übersetzung nacheinander an die Lampenflamme und hielt jede an der Ecke fest, bis sie ihr beinahe die Finger verbrannten, bevor sie sie auf die Asche in der Schale fallen ließ. Mit einem glatten schwarzen Stein, der
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