Die Klinge von Namara: Roman (German Edition)
die Linien meines Gesichts neu zu zeichnen. Und wieder, was hätte ich sonst auch tun sollen? Als ich fertig war, ließ ich die Fäden des Knochenformers los, senkte kurz den Kopf und flüsterte ins Leere:
Danke, Namara, wo immer du hingegangen sein magst.
Triss glitt herbei und um mich herum, umfing mich mit seinen Schwingen und seiner Liebe. Sie ist in unseren Herzen, wie sie es immer gewesen ist. Das hast du einst gewusst, auch wenn du eine Weile vergessen haben magst, wie du ihrer Stimme lauschen kannst.
Ich schaute in mich hinein, konzentrierte mich auf die Probleme, vor denen ich nun stand, und lauschte auf die Stimme meiner Göttin, hoffte, sie würde mir sagen, wie ich mit ihnen umgehen sollte. Doch ich konnte nichts außer Stille wahrnehmen. Ich hätte angenommen, dass mich das schmerzen würde, als wäre mir eine neue Hoffnung entrissen worden, ehe sie sich ganz entfalten konnte, aber das tat es nicht. Namara mochte mir nicht auf die Art geantwortet haben, die ich einst von ihr erwartet hatte, aber es war genau so, wie es sein sollte.
Denn Triss hatte recht und unrecht zugleich. Namara lebte in uns, aber nicht in unseren Herzen. Sie lebte in dem Ideal der Gerechtigkeit und unserer Pflicht, sie durchzusetzen. Aber Gerechtigkeit war nicht so einfach, wie ich einmal geglaubt hatte. In meiner Jugend hatte ich die Gerechtigkeit als eine Art göttliches Idol in Form von Namara erlebt. Ich hatte dieses Idol angebetet und ihm gedient, so gut ich konnte, und für den Jungen, der ich gewesen war, war es so richtig gewesen. Aber in den Jahren, die seither vergangen waren, hatten sich viele Dinge geändert, und nicht alle zum Schlechteren.
In meiner Jugend hatte ich nicht nur an meine Göttin geglaubt, sondern an die Idee des Göttlichen, daran, dass die Götter unsere rechtmäßigen Herren wären und stets unser Bestes im Herzen trügen. Ich hatte Namara als einen Teil von etwas Größerem gesehen, als mehr als nur das grundlegende Streben jener, die auf der Oberfläche unserer Welt wandelten. Und darum hatte der Tod meiner Göttin durch die Hand der ihren beinahe auch meine Seele getötet.
Er hatte auch meine Identität umgeschrieben, umfassender, als ein Knochenformer mich je verändern könnte, und auf eine Weise, die ich gerade erst ansatzweise zu begreifen angefangen hatte. Zum Beispiel waren die Götter wir selbst. Ob unsere Bosheiten und unsere erbärmlichen Grausamkeiten eine Reflexion derer waren, die uns geschaffen hatten, oder ob wir auf irgendeine Weise durch die Macht unseres Glaubens die Götter geschaffen hatten, die wir verdienten, war nicht von Bedeutung. Von Bedeutung war, dass das Himmelsgericht sich wahrer Gerechtigkeit so wenig rühmen konnte wie die Gerichte der Menschen.
Wenn ich auch Namaras Ideal der Gerechtigkeit immer noch favorisierte, begann ich doch zu verstehen, dass ich selbst, als ich mein Gewissen einfach der Göttin der Gerechtigkeit überantwortet hatte, vielleicht nicht die beste Wahl getroffen hatte. Es war nicht nur, dass ich die Welt nicht mehr in dem Schwarz und Weiß sah, in dem ich sie als Namaras Klinge erlebt hatte. Es war mehr, dass ich, nachdem ich dort gelandet war, wo all die Grautöne die Skala dominierten, endlich anfing, die Bedeutung dessen zu erfassen, was zwischen den Extremen lag.
Die Welt war kein einfacher Ort, und je komplizierter sie wurde, desto klarer erkannte ich ihre Komplexität. Das war kein tröstliches Gefühl und auch keines, das es mir gestattet hätte, einfach auf das Echo der Göttin in meinem Herzen zu lauschen. Jetzt musste ich den Weg zu den richtigen Antworten selbst ersinnen , eine Erkenntnis, die zutiefst beängstigend war. Wo war die Gerechtigkeit bei meiner derzeitigen Aufgabe? Und wo lag, mit ihr, meine Pflicht?
Aral?
Triss Stimme in meinem Kopf schreckte mich aus der Welt der Gedanken und zurück an den Ort, an dem meine Probleme Uniform trugen und Tötungsbefehle mit meinem Namen herumschleppten.
Ja?
Triss hatte sich bewegt, sich zurückgelehnt, sodass er mir in die Augen sehen konnte. Wann willst du den Stillezauber lösen? Dieses Wortedenken ist viel anstrengender als sprechen.
Mit einem Gedanken und einer Geste riss ich die Kuppel der Stille ein. »Besser?«
»Viel besser.« Triss entspannte sich erkennbar, senkte den Kopf und legte ihn auf meine Schulter. »Wie geht es dir?« Die Worte klangen leise und drängend, aber auch sanft, beinahe, als fürchtete er, ich könnte einfach zerbrechen.
Wie ging es mir? Ich fuhr
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