Die Klinge
Hochgeschwindigkeitszug TGV. Einheimische mit prall gefüllten Einkaufstaschen drängten sich in den vorderen Teil des Zuges, sodass sich Arbogasts Reisegruppe mit Plätzen weiter hinten zufrieden geben musste. Als Paula, Tweed und Newman sich hinsetzten, sahen sie, wie Russel Straub, der eine große Tasche bei sich hatte, gerade auf einer der vorderen Bänke Platz nahm. Danvers folgte ihm auf dem Fuß.
Die Mitglieder der Familie Arbogast saßen im ganzen Wagen verstreut. Als sich die Türen automatisch schlossen und der Zug langsam Fahrt aufnahm, wechselte Paula auf den Platz neben Tweed.
»Sehen Sie nur, Black Jack ist eingeschlafen«, flüsterte sie. »Der muss sich gestern Nacht ganz schön verausgabt haben.«
»Vielleicht ist er durch sämtliche Kneipen der Stadt gezogen«, antwortete Tweed. »Vielleicht hat er aber auch was ganz anderes gemacht.«
»Ich frage mich, weshalb Professor Seale in Montreux war.«
»Das werden wir vielleicht nie erfahren.«
»Und warum ist Ihnen der Stammbaum der Arbogasts so wichtig?«
»Ich habe da so eine Ahnung.«
Der Zug fuhr jetzt steil nach oben, und Montreux wurde immer kleiner. Paula kehrte auf ihren alten Platz zurück und schaute aus dem Fenster. Ab und zu hielt die Zahnradbahn in kleinen Ortschaften mit malerischen Schweizer Häusern, wo Frauen mit schweren Taschen aus dem vorderen Teil des Zuges stiegen. Wahrscheinlich wohnten sie hier oben am Berg und waren zum Einkaufen nach Montreux gefahren. Paula gefielen die weiß getünchten, efeubewachsenen Häuser. Nachdem der Zug in mehreren Dörfern gehalten hatte, arbeitete er sich langsam durch steiles, felsiges Gelände ins Hochgebirge hinauf. Wie zwei glänzende Schlangen aus Metall führten die Gleise in einer Unzahl von Serpentinen immer weiter den Berg hinauf, und Paula hatte ein Gefühl, als würden sie unmittelbar auf das Dach der Welt fahren.
»Wenn wir aussteigen, bleiben Sie bitte ständig in Paulas Nähe und lassen sie keine Sekunde aus den Augen, was immer auch passiert«, flüsterte Tweed Newman so leise ins Ohr, dass nur dieser es hören konnte. »Das ist ein Befehl.«
»Verstanden.«
»Bob, würden Sie vielleicht mit mir die Plätze tauschen?«, fragte Paula von der anderen Seite des Mittelgangs. »Es ist zwar ziemlich egoistisch von mir, aber die Aussicht auf Ihrer Seite ist einfach spektakulärer.«
»Nur zu...«
Tweed überließ Paula seinen Fensterplatz. Der Zug fuhr um eine Kurve, und Paula sah vor sich einen hohen Felsengipfel, der kalt und bedrohlich auf sie wirkte.
»Das ist der Rochers de Naye«, erklärte Tweed. »Aber bis ganz hinauf kommt man nur als geübter Kletterer.«
»Ich komme mir vor wie in einer anderen Welt«, sagte Paula.
»Und ich frage mich langsam, warum Roman Arbogast diesen Ausflug organisiert hat. Das passt eigentlich gar nicht zu ihm.«
Tweed verstummte, und Paula beobachtete, wie dichte Nebelwolken den Gipfel einhüllten. Es sah aus, als wäre er von einer Sekunde auf die andere spurlos verschwunden. Weiter vorn im Waggon erwachte Black Jack aus seinem Schlaf und fuhr sich mit den Händen durch das dichte Haar, bevor er sich ausgiebig dehnte und reckte, als wollte er sich auf eine schwere körperliche Aufgabe vorbereiten. Roman Arbogast, der hinter ihm saß, richtete sich ebenfalls auf. Sie näherten sich der Bergstation.
»Bei dem Nebel wird es ziemlich kalt werden«, sagte Tweed, nahm seinen Regenmantel und legte ihn Paula über die Schultern. »Der hält den Wind ab. So bleiben Sie warm.«
Bevor Paula protestieren konnte, stand er auf und wandte seine Aufmerksamkeit Arbogast zu. Arbogasts rechtes Auge zuckte, was Tweed als Zeichen von Anspannung deutete. Aber weshalb? Was bekümmerte ihn? Oder bereitete er sich auf etwas Bestimmtes vor?
Der Zug hatte die Bergstation erreicht, die Türen öffneten sich automatisch, und die Fahrgäste traten auf einen kleinen Bahnsteig hinaus. Tweed versuchte, sich einzuprägen, wer in welche Richtung ging, aber es war geradezu ein hoffnungsloses Unterfangen, weil alle in unterschiedliche Richtungen auseinander stoben. Paula hatte noch im Zug ihre langen Haare unter eine Baseballmütze geschoben. Als sie jetzt ausstieg, nahm Newman sie am Arm.
»Leisten Sie mir bitte Gesellschaft«, bat er sie. »So hoch oben kriege ich immer Höhenangst.«
»Das wusste ich ja noch gar nicht.«
»Wir waren ja auch noch nie auf zweitausend Metern Höhe.«
Tweed entfernte sich von den anderen und stieg allein den felsigen Hang zu einem
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