Die Klinge
Hügel hinabliefen, ging im Morgendunst gerade milchig weiß die Sonne auf. Der See war eine stille, graue Wasserfläche, auf deren anderer Seite Frankreich lag. Die Schaulustigen hatten sich inzwischen zerstreut, und auf der Promenade war es ruhig. Tweed zeigte einem Polizisten Becks Karte, worauf dieser sie durch die Absperrung ließ.
Paula dachte, wie schön - und gleichzeitig wie tragisch - dieser Morgen doch war. Sie blickte auf die Büsche und Bäume entlang der Promenade und lauschte dem leise glucksenden Geräusch der Wellen. Es war wie im Himmel, der sich in eine Hölle verwandelt hatte. Nach kurzer Suche fanden sie die beiden Männer in den weißen Overalls, die mit starken Taschenlampen das Pflaster der Uferpromenade ableuchteten. Tweed zeigte ihnen Becks Karte und fragte sie auf Französisch, ob sie schon Blutspuren gefunden hätten.
»Nur an dem pic-bot . Um den Toten in den gummierten Leichensack zu stecken, musste der Täter über ziemliche Kräfte verfügen.«
»Nicht nur dazu«, bemerkte Newman. »Auch um ihm den Kopf abzuschlagen.«
»Entschuldigen Sie, aber so allmählich möchte ich jetzt doch ins Hotel zurück«, sagte Paula, die es vor Hunger kaum mehr aushielt, und warf einen letzten Blick auf den See, den die aufgehende Sonne mit einem rosaroten Schimmer überzog. Die leuchtenden Farben erinnerten sie an ein Gemälde von Monet. Auf dem Weg zum Hotel fiel ihr plötzlich ihr Albtraum wieder ein, sodass sie, als sie die Halle betrat, unwillkürlich erschrak. Vor ihr stand Roman Arbogast, der einen eleganten schwarzen Anzug trug und den Anschein machte, als hätte er auf sie gewartet.
»Ich dachte, Sie wären abgereist«, sagte Tweed.
»Ja, aber jetzt bin ich wieder da«, antwortete Arbogast mit einem freundlichen Lächeln. »Ich habe meiner Kunststofffabrik in Vevey einen Besuch abgestattet.« Er schaute sich um. »Wenn Sophie das wüsste, wäre sie bestimmt eingeschnappt. Sie glaubt, dass die Fabrik ihr ganz persönliches Eigentum ist. Stellen Sie sich nur vor, sie hat im Fabrikgebäude sogar einen Raum ohne Fenster einbauen lassen, dessen Stahltür mit zwei Schlössern gesichert ist. Niemand außer ihr darf dort hinein. Na ja, Sophie hat eben ihre Marotten. Aber sagen Sie, hätten Sie nicht Lust, uns nach dem Frühstück auf einen kleinen Ausflug zu begleiten? Es wird Ihnen bestimmt gefallen.«
»Wohin denn?«
»Wir fahren mit der Zahnradbahn auf den Gipfel des Rochers de Naye. Der Berg ist über zweitausend Meter hoch, und von seinem Gipfel aus hat man einen fantastischen Blick auf den See.«
»Danke für die Einladung. Wir kommen gern mit.«
Tweeds Entscheidung wurde unter anderem auch davon beeinflusst, dass Paula seiner Meinung nach dringend eine
Ablenkung benötigte. Erst der böse Albtraum, dann der Anblick von Professor Seales Leiche. Der Ausflug würde sie auf andere Gedanken bringen.
Im Speisesaal nahm Paula zwischen Tweed und Newman Platz. Als Marler, Butler und Nield den Raum betraten und sich suchend umsahen, winkte sie ihnen und forderte sie auf, sich doch zu ihnen zu setzen. Die drei wussten bestimmt noch nicht, was in den letzten Stunden alles passiert war. Paula aß zwei Eier mit Speck und vier Croissants und trank dazu drei Tassen Kaffee. Danach fühlte sie sich wie neugeboren. Tweed bemerkte, dass ihr Gesicht, das am Morgen sehr blass gewesen war, wieder Farbe bekommen hatte. Bald war sie in ein angeregtes Gespräch mit Marler, Butler und Nield vertieft.
»Wir waren zwar nicht unten am See, aber wir haben schon gehört, dass man Professor Seale aus dem Wasser gefischt hat«, sagte Marler gerade. »Aber das ist offensichtlich jetzt kein Thema«, fügte er rasch hinzu, als er Tweeds warnenden Blick bemerkte. »Dafür haben wir uns hier ein wenig nützlich gemacht. Wissen Sie eigentlich, dass der amerikanische Vizepräsident wieder aufgetaucht ist?«
»Nein, das wusste ich nicht«, antwortete Tweed gleichermaßen erstaunt und besorgt. »Wo war er denn? Und woher wissen Sie das?«
»Ich habe meine Augen eben überall«, erwiderte Marler grinsend. »Er kam ganz allein in einem Mercedes am frühen Morgen hier an und schlüpfte unbemerkt ins Hotel. Sie wissen ja, dass ich Frühaufsteher bin. Straub hat sich schnurstracks mit einem großen Koffer in seine Suite begeben.«
»Dann hat er wohl woanders übernachtet.«
»Aus welchem Grund sollte er sonst einen Koffer mitnehmen?«
»Während des Wahlkampfes drüben in Amerika scheint er überall gleichzeitig zu sein,
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