Die Klingen der Rose: Ein unwiderstehlicher Schurke (German Edition)
patrouillieren. Zumindest bot ihr das Zelt etwas Privatsphäre. Seit ihrer Entführung war London keine Sekunde lang allein gewesen. Immer stand jemand neben ihr. Sally. Vater. Fraser. Und die Wachen. Das einzige Erfreuliche war, dass Chernock sich rar machte und stundenlang in seinem Zelt blieb. Er murmelte etwas, das London nicht interessierte. Sie war allerdings ziemlich sicher, dass er Zaubersprüche auf Ammonit psalmodierte.
Da sie ganz für sich war, zog London die Nadeln aus ihrem Haar und ließ es über ihre Schultern herabfallen. Mit den Fingerspitzen massierte sie ihre angespannte Kopfhaut. Nachdem sie sich mit einem Blick überzeugt hatte, dass die Zelttür geschlossen war, öffnete sie ihre Hemdbluse und entblößte ihr leichtes Reisekorsett. Sie löste die vorderen Haken und atmete so tief ein, wie sie konnte. Trotzdem fühlte sie sich beengt.
London nahm eine der Seiten zur Hand und betrachtete die Schrift. Technisch gesehen hatte sie den Text übersetzt. Nur ergaben die Worte keinen Sinn.
Als versuche ein Titan aus ihrem Schädel auszubrechen, verstärkten sich ihre Kopfschmerzen. Sie saß in der Klemme. Wenn es ihr gelang, die Inschrift zu entschlüsseln, und sie ihr Wissen ihrem Vater und den Erben überließ, machte sie sich zur Verbündeten von Männern, deren Ziele sie verachtete. Sie konnte sie mit falschen Informationen versorgen, doch irgendwann würden sie herausfinden, dass London sie bewusst auf eine falsche Fährte gelenkt hatte. Dann lag ihr Leben in den Händen dieser Leute, und sie konnte nur beten, dass ihr Vater sie vor einer harten Strafe bewahrte. Bislang hütete er sie wie eine Seifenblase, die jeden Augenblick zerplatzen konnte. Es war aber gut möglich, dass den Erben ihre Pläne vorgingen und Londons Tun als Verrat geahndet wurde.
Die Alternative war: Sie konnte sich, wie Bennett Day es vorgeschlagen hatte, den Klingen anschließen. Sie konnte sich ihm anschließen. Das wäre ein offener Treuebruch. Dann verlöre sie alles. Aber sie wusste ja ohnehin nicht, wo Day sich aufhielt. Seit der Nacht ihrer Entführung war er verschwunden. Vielleicht hatte er sie nur auf die Idee bringen wollen. Er überließ ihr die Rolle des Saboteurs und wusch seine Hände in Unschuld.
Hätte sie es gekonnt, wäre sie weggelaufen. Doch es gab keine Möglichkeit, Delos ohne Boot zu verlassen. London konnte zwar schwimmen, aber ihre Kraft reichte nicht, um die nächsten Inseln zu erreichen. Sie würde entweder ertrinken oder von den Erben eingeholt werden, bevor sie das rettende Ufer erreichte. Sie hätte sich auch an die französischen Archäologen wenden können, aber auch die würden ihr nicht helfen können oder wollen.
London stand abrupt auf und ging zu ihrem Feldbett. Sie setzte sich und ließ die Schultern hängen. Wie müde sie war. Seit ihrer Entführung hatte sie nicht viel geschlafen und wenn, dann quälten sie Träume von Bennett Day. In ihren Träumen verführte er sie mit süßen Worten und streichelte sie mit seinen Händen, an denen das Blut von Lawrence klebte. Im Traum lachte sie über die roten Abdrücke, die seine Hände auf ihrem nackten Körper hinterließen. Sie lachte, weil sie frei war. Weil er sie von ihrer Ehe befreit hatte. Dann wachte sie auf voller Schuld, Angst und Sehnsucht und lag zitternd im Bett.
Die Kopfschmerzen und die Hitze belasteten sie. Sie konnte kaum die Augen offen halten. London zog ihre Hemdbluse aus und legte sich aufs Bett. In ihr Zelt kam nur Sally und die durfte sie ruhig halb nackt sehen. Die wenige Luft in dem geschlossenen Zelt kühlte die Haut an ihren Armen und ihrem Dekolleté. Hätte sie über eine echte Privatsphäre verfügt, würde sie sich ihrer gesamten Kleidung entledigen und die nachmittägliche Hitze auf ihrer nackten Haut genießen. Sie stellte sich vor, wie sie nackt über die Felsen von Delos kletterte, eine Oreade, die sich nur der Erde verbunden fühlte.
London beobachtete, wie sich das Zeltdach im Wind blähte und wieder zusammenfiel. Wie wundervoll wäre es, hinaus aufs Meer geweht zu werden. Wie eine Anemone über die Wellen zu tanzen. Alles hinter sich zu lassen – die Erben und die Klingen, die Schande, die Verantwortung und die Lust. Ein zartes wehmütiges Lächeln erschien auf ihren Lippen. Daheim in England hatte sie sich danach gesehnt, in die Welt hinauszukommen, ihren schützenden Kokon zu verlassen. Jetzt war sie frei und fühlte sich von überall her bedrängt, selbst von innen heraus.
So war das Leben:
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