Die Klinik
schrecklichen Bildes zu rekonstruieren und den Rest zu erraten: das ungeheure Ausmaß der Niederlage, die geringe Vorbereitung der angreifenden »Brigade«, die veraltete Ausrüstung, die mangelhafte Unterstützung aus der Luft, die arrogante Pfuscherei des CIA, die offensichtliche Qual des jungen amerikanischen Präsidenten, das Fehlen der Marine der Vereinigten Staaten, als sie so verzweifelt gebraucht wurde.
Rafe verbrachte viel Zeit damit, sich vorzustellen, wie es gewesen sein mußte. Das Meer in ihrem Rücken, vor ihnen der Sumpf und Fidel Castros von den Sowjets bewaffnete Miliz. Die Toten, die spärlichen Einrichtungen zur Behandlung der Verwundeten.
Als er langsam durch das Krankenhaus ging, sah er bestimmte Dinge zum erstenmal.
Einen Wiederbelebungsapparat, einen Schrittmacher. Einen Absaugapparat.
Betten, die Wärme und Ruhe für geschockte Patienten boten.
Die einfach phantastische Reihe von Operationssälen, die aufeinander eingespielten Ärzte und Schwestern.
Gott, die Blutbank. Alle Meomartinos hatten seltene Blutgruppen.
Er hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß er Kubaner war; eine Anzahl der Stabsangehörigen und einige Patienten murmelten mitfühlende Worte, aber die meisten vermieden das Thema. Manchmal verstummte das Gespräch schuldbewußt, wenn er eintrat.
Plötzlich konnte er nachts schlafen; sowie er sich ins Bett legte, versank er in den tiefen bewußtlosen Schlummer eines Menschen, der die Flucht ergreift.
Eines Tages, im Mai, kam die schwere Silberuhr mit den Engeln auf dem Deckel wie eine weiße Feder dahergeschwebt, von Onkel Erneido eingeschrieben übersandt. Der Begleitbrief war kurz, enthielt jedoch einige Mitteilungen.
Mein Neffe, Wie Du weißt, gehört diese Familienuhr zum Meomartino-Erbe. Sie wurde von jenen, die sie mit treuen Händen für Dich bewahrten, in Ehren gehütet. Bewahre sie sorgfältig. Mögest Du sie noch an viele Generationen Meomartinos weitergeben.
Wir wissen nicht, wie Dein Bruder starb, aber wir haben es aus ersten Quelle, daß er zugrunde ging und sich vor seiner Vernichtung gut hielt. Ich will versuchen, im Laufe der Zeit mehr zu erfahren.
Ich glaube nicht, daß wir einander in naher Zukunft treffen. Ich bin ein alter Mann, und die Energien, die mir noch geblieben sind, will ich anwenden, so gut ich nur kann. Ich hoffe und vertraue darauf, daß Deine ärztliche Laufbahn gut verläuft. Ich glaube nicht mehr daran, mein Kuba in Freiheit zu erleben. Es gibt nicht genügend Patrioten mit Männerblut in den Adern, um Fidel Castro das zu entreißen, was zu Recht das Ihre ist.
Dein Onkel Erneido Pesca
Rafe legte die Uhr in seinen Schreibtisch und fuhr ins Krankenhaus. Als er vierzig Stunden später zurückkehrte und die Lade öffnete, war sie da und wartete auf ihn. Er starrte sie an, schloß die Lade, zog den Mantel an und verließ die Pension. Draußen versuchte der Nachmittag mit sich ballenden Regenwolken zu entscheiden, ob er Ausklang des Frühlings oder Auftakt des Sommers war. Rafe ging lange, Block um Block, über die Gehsteige Bostons durch die Nachmittagshitze.
Auf der Washington Street verspürte er, wie eine plötzliche Überraschung, Hunger und betrat ein Gasthaus im Schatten der Hochbahn. Der Bostoner Herald-Traveler war einen Häuserblock entfernt. Es war ein gutes Lokal, eine Bar für arbeitende Menschen, voll von Zeitungsleuten, die ihr Abendessen einnahmen oder tranken, einige Setzer trugen noch immer die Kappe aus gefalteten Zeitungsblättern, um das Haar vor Druckerschwärze und Fett zu schützen.
Auf dem Barhocker am Ende der Theke bestellte er ein Kalbskotelett mit Parmesan. Ein Fernsehapparat über dem Spiegel spie eine Nachrichtensendung aus, die letzten Daten der Katastrophe in der Schweinebucht.
Wenige Invasoren waren evakuiert worden.
Ein großer Prozentsatz von ihnen war getötet worden. Praktisch alle Überlebenden waren in Gefangenschaft.
Als sein Kalbskotelett kam, nahm er sich nicht einmal die Mühe, es anzuschneiden. »Einen doppelten Scotch.«
Er trank ihn, dann einen zweiten und fühlte sich besser, und dann einen dritten, von dem ihm sehr schlecht wurde. Da er Luft brauchte, ließ er eine Banknote auf die Mahagoniplatte fallen und ging auf müden Beinen fort.
Draußen hing der neue Nachthimmel niedrig und schwarz, der Wind klatschte wie eine Reihe nasser Handtücher vom Meer herein. Er suchte einen Unterstand, als ein Taxi stehenblieb.
»Bringen Sie mich zu irgendeiner guten Bar. Und warten Sie dort,
Weitere Kostenlose Bücher