Die Klinik
Mutter betrat, sah er einen dunklen Schatten über sie gebeugt, einen großen mageren Priester, dessen sommersprossiges Babygesicht und Karottenhaar über seiner schwarzen Soutane wie ein Witz wirkten.
Schon schimmerte Öl auf den Augenlidern seiner Mutter und spiegelte winzige Lichtfünkchen.
»… Möge dir der Herr deine Sünden vergeben, welche immer du begangen hast«, sagte der Priester soeben; sein in Weihwasser getauchter Daumen machte das Kreuzzeichen auf ihrem verzerrten Mund, seine Stimme war ein Greuel, ärgster Südbostoner Akzent.
Du ungesund nüchterner junger Mann, was für ernsthafte Sünden konnte sie schon begangen haben, fragte sich Rafe. Wieder wurde der jugendliche Daumen eingetaucht.
»Durch diese Heilige Ölung…«
Gott, es heißt, es gäbe dich nicht, denn, wenn du existiertest, würdest du uns dann so quälen? Ich liebe dich, Mutter. Stirb nicht. Ich liebe dich. Bitte.
Aber laut sagte er nichts.
Er verharrte am Fußende des Bettes seiner Mutter und fühlte sich plötzlich allein, eine gräßliche Isolierung, und wußte, daß er nichts als ein Fleckchen Taubenmist in der grauenhaften Leere war.
Bald darauf bemerkte er, daß sie nicht mehr atmete. Er ging zu ihr, schob die Hand des Priesters mit einem Achselzucken beiseite, und nahm sie in die Arme.
»Ich liebe dich. Ich liebe dich. Bitte.« Seine Stimme war laut in dem stummen Zimmer.
Seine Mutter ging in kostspieligem, aber einsamem Prunk dahin. Rafe veranlaßte, daß sie in Blumen schwamm. Der Sarg war ein kupferner Cadillac, mit blauem Samt austapeziert. Das Letzte, das er noch für sie tun konnte, war, die feierliche Seelenmesse in der Cäcilienkirche zu bezahlen. Guillermo und Onkel Erneido flogen von Miami her. Die Wirtschafterin und das Zimmermädchen aus dem Ritz kamen und saßen in der letzten Reihe. Ein zitternder Trunkenbold, der vor sich hinmurmelte und zu den falschen Zeiten niederkniete, saß allein in der Ecke, vier Sitze vom Meßner entfernt. Ansonsten war die St.-Cäcilia-Kirche völlig leer, ein poliertes Echo, das nach Bodenwachs und Weihrauch roch.
Am Grab in Brookline standen sie allein, fröstelnd vor Kummer und Angst und der bis in die Knochen dringenden Kälte. Als sie zum Ritz-Carlton zurückkehrten, entschuldigte sich Erneido und ging mit Kopfschmerzen und Pillen zu Bett. Rafe und Guillermo zogen sich in die Hotelhalle zurück und tranken Scotch. Es war wie in den schlimmen alten Zeiten: trinken und Guillermo nicht zuhören. Schließlich verstand er durch einen Alkoholdunst wie aus der Ferne, daß Guillermo ihm etwas höchst Wichtiges erzählte.
»… geben uns Waffen, Flugzeuge, Panzer. Schulen uns ein. Sie werden Schulter an Schulter mit uns kämpfen, diese Marinesoldaten sind wundervolle Kämpfer! Wir werden Deckung aus der Luft haben, wir werden jeden Offizier brauchen, du wirst mit jedem, den du kennst, Kontakt aufnehmen müssen. Ich bin Hauptmann. Auch du wirst zweifellos Hauptmann werden.«
Rafe konzentrierte sich, erkannte, worüber sein Bruder sprach, und lachte freudlos. »Nein«, sagte er. »Danke.«
Guillermo hörte zu reden auf und sah ihn an. »Was meinst du damit?«
»Ich brauche keine Invasionen. Ich gedenke hierzubleiben. Ich werde um die amerikanische Staatsbürgerschaft ansuchen.«
Sechzig Prozent Entsetzen, dreißig Prozent Haß, zehn Prozent Verachtung rechnete er, als er die verschleierten Meomartino-Augen seines Bruders beobachtete.
»Du glaubst nicht an Kuba?«
»Glauben?« Rafe lachte. »Ich werde dir die Wahrheit sagen, großer Bruder. Ich glaube an überhaupt nichts, nicht so, wie du meinst. Ich glaube, daß alle ideologischen Bewegungen, alle großen Organisationen dieser Welt Lügen und Profit für irgend jemanden sind. Vermutlich glaube ich nur an Menschen, die anderen Menschen so wenig wie möglich schaden.«
»Edel. Was dir fehlt, ist Mut.« Rafe starrte ihn an.
»Du hast nie welchen gehabt.« Guillermo stürzte seinen Drink hinunter und schnalzte mit den Fingern nach dem Kellner. »Ich habe Mut, genug für alle Meomartinos. Ich liebe Kuba.«
»Du redest nicht über Kuba, alcahuete. « Sie hatten spanisch gesprochen; plötzlich entdeckte Rafe, daß er aus unerfindlichen Gründen in Englisch verfallen war. »Du redest über Zucker, Kuba ist nur das Alibi. Was wird es schon den armen Schweinen helfen, die das wirkliche Kuba sind, wenn wir Fidel in den nalgas zum Teufel jagen und uns alle unsere Schätze zurückholen?« Wütend nahm er einen Schluck Scotch.
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