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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Kälbern und lernten wahrscheinlich ihre erste Lektion in elterlicher Liebe, indem sie sie beobachteten. Sie schlichen sich an, um ihnen zuzusehen. Die Hirschkuh rührte sich nicht, denn sie hatte keine Angst: Tiere hatten noch keinen Grund, unseresgleichen zu fürchten. Außerdem handelte es sich um ein Kind, das Not litt. Ein Junge blieb vor der Hirschkuh stehen und streichelte ihr weiches Fell, während das Kalb mit dem Kopf nach ihm stieß oder seine Beine leckte. Dann begann das Kalb zu saugen. Und der Junge kniete sich hin und tat dasselbe. Die Hirschkuh stand da, wandte den Kopf und leckte das Kind ab. Und so begann die Vertrautheit zwischen Hirschkühen und Kindern. Es gab ein Lied: »Wir sind die Kinder der Hirsche«, das allerdings keineswegs so mitreißend war wie die Lieder über die Adler.
    Als die Säuglinge heulten und schrien und die kleinen Jungen merkten, dass sie gefüttert werden mussten, war es nur natürlich, die Kleinen zu den Hirschkühen zu tragen, die schon bald lernen mussten, sich hinzulegen, damit die Kleinen neben ihnen liegen konnten. Doch was hatten die Hirschkühe davon? Man kann nur spekulieren. Ich für meinen Teil glaube, dass Tiere intelligenter sind, als wir meinen. Schließlich war es eine Wölfin, die unsere Vorfahren säugte, Romulus und Remus. Die Skulptur mit den beiden Kleinen wird von uns sehr geschätzt. Und am Anfang dieses Bunds stand vermutlich die schreckliche Not der Kleinen, die beinahe starben, weil ihnen fehlte, was die Hirschkuh – wie die Wölfin – im Überfluss hatten. Not löst Reaktionen aus.
    Doch warum begannen die Adler, die Kleinen zu retten und über die Berge zu den männlichen Wesen zu tragen, statt sie zu verschlingen? Zum einen fingen die jungen Männer für die Adler Fische, die sie ins Gras legten, und wenn die großen Vögel ihre aus schreienden Säuglingen bestehende Last abgeliefert hatten, ließen sie sich zum Fressen bei den Fischen nieder. Es waren riesige Fische, und oft kamen sie auch ohne ein kleines Kind, um ihren Hunger zu stillen. Oder sie nahmen für ihre Nestlinge einen Fisch oder einen Teil davon mit hinauf in die Berge – es gab sehr große Fische im Fluss.
    Die Ungeheuer oder Zapfen, die mit der zweiten Welle kamen, waren also nicht mutterlos, sondern wurden von den guten Hirschkühen geleckt und angestupst und gefüttert, und sie spielten manchmal mit den Kälbern, als wären sie selbst welche.
    Die Hirschkühe und die saugenden Kleinen mussten beieinanderliegen, weil es damals noch keine Gefäße oder Behälter gab. Doch bald behalf man sich mit Muscheln aus dem Fluss und mit Kürbissen. Im Fluss gab es bei Weitem nicht so viel Tang wie im Meer, doch die Jungen wurden groß und stark, und den Weg zur Küste zurückzulegen war für zähe Jungen eine Kleinigkeit. Jener Küstenstrich lag ein Stück von dem der Spalten entfernt, schloss aber an diesen an. Lange Zeit wussten die männlichen Wesen nicht, dass sie den Spalten, ihren Verfolgerinnen, begegnet wären, wären sie ihren Stränden in einer Richtung gefolgt. Bei ihnen gab es Strände, während die Spalten nur glatte warme Felsen besaßen.
    Die Jungen holten verschiedene Arten von Tang, Schalentiere und Fisch aus dem Meer, und die neu hinzugekommenen Kleinen bekamen sehr gut zu essen, sobald sie der Milch entwachsen waren. Und die freundlichen Hirschkühe bekamen Tang, den sie mochten, aber Fisch und das Fleisch der Schalentiere mochten sie nicht.
    Doch selbst mithilfe der Hirschkühe muss es für die Jungen schwer gewesen sein, die Kleinen zu ernähren. Die Adler brachten immer mehr Ungeheuer. Die Adler hockten hoch oben auf den Felsen, wo sie die Spalten und ihre Felsen sehen konnten, und sobald ein kleiner Junge geboren worden war, stießen sie herab und retteten ihn, trugen ihn über den Berg.
    Wir nehmen an, dass in den Höhlen noch immer Zapfen versteckt gehalten wurden, doch energiegeladene Jungen lassen sich nicht ohne Weiteres gefangen halten, es sei denn, sie sind gefesselt. Einige Zapfen wurden gefesselt, aber sie brüllten und schrien und machten einen solchen Lärm, dass die alten Spalten erleichtert waren, als sie entkamen und unter Führung der großen Vögel flohen. Danach wurden die Kleinen nicht mehr als Schoßtiere gehalten, und die Spalten kehrten zu ihrer früheren Verfahrensweise zurück: Jedes Neugeborene, das nicht von den Adlern geschnappt wurde, sobald es aus dem Mutterleib kam, wurde auf dem Todesfelsen ausgesetzt und sofort von den Adlern

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