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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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in Hütten und Unterständen, die immer voller Abfall waren und stanken, weil sie einfach keine Ahnung hatten, wie man Ordnung hielt. Da lebten sie dicht am Rand eines großen Waldes, aus dem jeden Moment ein Tier springen und ein Kind oder sogar einen Halbwüchsigen packen konnte – mehr als einmal war es dazu gekommen. Während sie an die armen Zapfen dachte, behielt sie die Jungen im Auge, die sich auf den Berggipfeln über der Küste zusammendrängten. Sie dachte: Lasst euch nicht blicken, ihr Dummköpfe – wisst ihr nicht, dass ihr in Gefahr seid?
    Schließlich stand Maire in aller Ruhe auf, sagte den Kindern, sie werde bald zurück sein, und ging hinunter zu den Alten Weiblichen Wesen.
     
    Nun, lieber römischer Leser, was siehst du vor deinem geistigen Auge, wenn du Maire hinabsteigen siehst? Ich sage es dir, du siehst, was auch ich vor Augen habe, was wir alle vor Augen haben: die Bilder unserer Göttinnen. Der beste Sklave meines Vaters, den er wegen seiner besonderen Fähigkeiten teuer gekauft hatte, konnte beliebte Statuen kopieren. In dem Olivenhain dicht bei unserem Haus stand die Lieblingsstatue meines Vaters, eine Diana-Statue. Sie stand da in ihrem wehenden Röckchen und hielt den Bogen aus vergoldetem Holz, mit dem man keinen Spatzen abschießen konnte, wie mein Vater gewöhnlich scherzte. Und an der Stelle, wo sich unsere Straße mit der Hauptstraße kreuzte, stand Artemis, die unser Sklave zwar nicht geschaffen, aber in kleinerer Ausführung kopiert hatte, und diese Kopie stand ebenfalls im Olivenhain. Ich sehe ein hochgewachsenes, anmutiges weibliches Wesen mit elegantem kleinem Kopf und schimmerndem Haarknoten, den ein silbernes Stirnband zusammenhält, dessen Enden in der Meeresbrise flattern, weil unsere Fantasie das starre Metall nicht sieht. Ein Gewand aus zartestem Leinen umweht sie. Die mit Sandalen bekleideten Füße schreiten leicht über die Steine am Ufer. Sie lächelt. Wir alle kennen das Lächeln der Göttin, das uns für jetzt und immerdar Schutz verspricht. Unvorstellbar, dass irgendetwas Artemis beziehungsweise die schöne Diana von ihrem Platz in unseren Herzen verbannt. Unsere lächelnde Göttin wird für immer über uns wachen, welche Gefahr uns auch droht.
     
    Doch wer Maire vom Zugang zu ihrer Höhle herabsteigen sah, bemerkte nichts dergleichen. Wir wissen nicht, wie die Spalten aussahen. Wir wissen nicht, wie der Körperbau, die Größe und die Haltung jener Spalte beschaffen waren, jenes weiblichen Wesens, das zum allerersten Mal ein Kind gebar, in dem das Blut von beiden floss, von Zapfen und Spalten, das erste, das zu etwas Neuem gehörte, zur eigentlichen Menschheit, zu uns.
    Wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass Maire nicht schlank war, keine Diana. Jene ersten Menschen an der Küste: sie entstammten vermutlich dem Meer. Und sie alle, alle diese Spalten, waren ebenso oft im Wasser wie an Land. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie auf sanften Wellen treibend schliefen, mit ausgebreiteten Armen, die Gesichter dem Himmel zugewandt. Sie schwammen – nun ja, wie Fische oder Meerestiere. Man kann mit Sicherheit sagen, dass sie kräftig gebaut waren, mit starken Schultern und Armen, breiten Oberschenkeln und muskulösen, kräftigen Hinterbacken. Meerestiere besitzen eine Fettschicht, die nützlich ist. Maire hatte vermutlich starke weiße Zähne: Sie aßen rohen Fisch, indem sie das Fleisch mit den Zähnen von den Gräten rissen. Wenn man auf eine Gruppe Spalten zukam, die gerade Fische gefangen hatten und kauten und nagten, waren sie auf den ersten Blick wahrscheinlich leicht mit Robben oder Tümmlern zu verwechseln. Jenes Wesen, Maire, unsere erste mütterliche Ahnin, die den Namen des Mondes trug, hatte füllige weiche Brüste voller Milch. Das wissen wir aus den allerersten mündlichen Überlieferungen, die wir von den Zapfen besitzen, den männlichen Wesen, die die großen Milch spendenden Brüste der Spalten liebten.
    Als jenes gedrungene, robuste, gesunde weibliche Wesen bei den Alten Weiblichen angekommen war, die wie gestrandete Fische auf ihren Felsen lagen, lächelte sie und sagte: »Es gibt einiges zu besprechen«, womit sie selbst die Initiative ergriff. Maire wusste, dass sie in Gefahr war: Bedrohung und Anspannung waren deutlich zu spüren. Sie wusste, dass irgendeine Verschwörung im Gange war. Wenn sie, Maire selbst, zum Beispiel Astre und ihre getreuen Mädchen hätte loswerden wollen – was hätte sie getan? Man müsste alle in ein tiefes

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