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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Lessing
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Moment in ihren Adern geflossen? Oder hatte sie einfach keine Vorstellung davon, wie schwer ihr die Bewegung fallen würde, ihr, die sich nie bewegte?
    Jene Umgebung, die sie und ihre Ahninnen gekannt hatten, war nun für immer verändert. Vor den Höhlen, in denen Maire und Astre und die anderen von der neuen Art mit ihren Kindern wohnten, brannten große Feuer. Sie und ihresgleichen kannten nur Feuer, das über den Wellenkämmen zuckte, den Himmel durchfuhr oder in Ketten auf den Gipfeln kleiner Hügel an der Küste brannte, aber Feuer als etwas Vertrautes – das kannten sie nicht. Inzwischen brannten die Feuer bei Nacht manchmal so hoch, dass Fische und andere Meerestiere zur Wasseroberfläche stiegen und staunten, weil das Licht der Flammen einen goldenen Schimmer auf das Wasser warf, weshalb sie sich fragten, ob Mond oder Sonne außer der Reihe aufgegangen waren. Weil das Licht des Feuers in den Wellentälern widerschien, wussten die Alten, dass nichts mehr so war, wie sie es kannten – und dass das Neue Gefahren für sie barg, hatten sie schon gelernt.
    Ja, sie würde sich selbst ein Bild machen. Sie hievte sich hoch, bis sie auf ihren großen, unsicheren Füßen stand, und stolperte, gestützt von jungen weiblichen Wesen, die den Alten treu geblieben waren, von den felsigen Stränden weg auf den Berg zu, langsam, Schritt für Schritt. Sie murrte und stöhnte schon nach ein paar Schritten. Noch bevor der Todesfelsen erreicht war, musste sie sich setzen und ausruhen. Aber sie stand wieder auf, ging weiter über den unebenen, steinigen Boden und ließ ihr Element, das Meer, und ihre Sicherheit hinter sich. Sie ging weiter, wobei sie immer langsamer wurde und immer wieder stehen blieb, obwohl ein Großteil ihres Gewichts auf den Stützenden lastete. Die Jüngeren baten sie, doch lieber umzukehren, doch sie wollte unbedingt weitergehen, was allein schon erstaunlich für uns ist. Vielleicht konnte sie sich nur zum Weitergehen durchringen, weil sie keine Vorstellung davon hatte, was es hieß, eine solche Entfernung zurückzulegen.
    Am Fuß des Berges angekommen, löste sie sich aus den stützenden Armen, setzte sich hin und jammerte, doch dann raffte sie sich wieder auf. Sie kroch meist auf Händen und Knien den Hang hinauf. Inzwischen schrien um sie herum die Adler, stießen zu ihr hinab und flogen wieder auf. Sie schrie die Adler an und die Adler sie, Feinde, die sich gegenseitig hatten töten wollen. Was dachte sie wohl über diese Vögel, die größer waren als sie, Vögel, die eine junge Spalte von den Felsen reißen und in die Wellen schleudern konnten? Ihr Aufstieg verursachte einen beängstigenden Lärm, all ihr Gestöhne und Geschrei, ihre Verwünschungen und ihr kreischender Hass auf die Vögel, Steine, die losgetreten den Hang hinabrumpelten, die ermutigenden Rufe der Jüngeren. Auf dem Gipfel angekommen, war sie schließlich von den Nestern der Adler umgeben, und überall um sie herum auf den Felsen und am Himmel über ihr waren große Vögel. Sie stand von den jungen Spalten gestützt da und blickte in das Tal, und was sahen ihre Augen, die es gewohnt waren, wilde, tosende Wellen zu betrachten? Doch immerhin versuchte sie, hinzusehen und zu verstehen.
    So etwas wie die Unterstände unten im Tal hatte sie noch nie gesehen. Sie bestanden aus Ästen und geflochtenem Flussgras, und außerdem nahm sie etwas Dunkles wahr, mit kleinen weißen Kämmen, das sich bewegte, wusste aber nicht, dass es ein Fluss war. Sie hatte gehört, dass ein großer Fluss das Tal durchzog, doch Wellen wogten für ihre Begriffe und tosten bei rauem Wind, und es fiel ihr schwer, sich zwischen Ufer eingeschlossenes Wasser vorzustellen, das rasch vom Berg zu den Felsbarrieren floss, die ihr den Blick auf die Wellen des Meeres verstellten. Dort unten waren Menschen, und es brannte ein riesiges Feuer. Es waren sehr wenige Menschen: sie war den Anblick von Spalten gewohnt, die sich überall um sie herum auf den Felsen aalten. Und zwar eine Menge Spalten, viele, während hier nur wenige Menschen zu sehen waren. Sie wusste, dass es Ungeheuer waren, denn darauf hatte man sie vorbereitet. Einige Jungen schwammen mit Spalten, die zu Besuch waren, im Fluss. Es befanden sich auch neugeborene Ungeheuer dort unten bei den anderen, doch die waren in den Unterständen versteckt. Beim Anblick des Tals, das sie sich bevölkert vorgestellt hatte, war sie enttäuscht, wie wir enttäuscht sind, wenn imaginierte feindliche Gruppen oder Armeen im Licht

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