Die Kluft: Roman (German Edition)
ihre Anhängerinnen besprachen all das, ohne zu einem Schluss zu kommen. Wenn sie eines der Mädchen der Alten Weiblichen baten, zu ihnen zu kommen und mit ihnen zu reden, würden die Alten Weiblichen Wesen wissen, dass sie Verdacht schöpften. Es wäre ganz einfach gewesen, ein Mädchen hinauf zu Maires Höhle zu locken, denn es bestand keine strikte Trennung zwischen gehorsamen und rebellischen Mädchen. Schließlich waren auch Maires und Astres Verbündete einmal den Alten Weiblichen gefolgt. Viele gehorsame Mädchen waren in Maires Höhle aufgetaucht und hatten gefragt, was an den Ungeheuern so reizvoll sei. Einige waren in das Tal gegangen, um es selbst herauszufinden. Die Venusmuschelsammlerinnen verschoben ihren Aufbruch immer wieder, bis die Alten Weiblichen eine Nachricht schickten und nach dem Grund für die Verzögerung fragten.
Wir wissen nicht, wie viele Spalten schließlich gemeinsam loszogen, nur, dass sie ihre Kinder mitnahmen. Als sie am Meeresufer entlanggingen, wussten sie, dass sie beobachtet wurden: Eines der Mädchen der Alten Weiblichen hielt sich zwischen den Felsen versteckt und verfolgte sie. Aus diesem Grund konnten sie nicht tun, was sie vorgehabt hatten, nämlich bis zum Einbruch der Nacht zu warten und sich dann im Dunkeln zurück zu ihrer Küste zu schleichen, einen hochgelegenen Platz zu suchen und dort abzuwarten, was als Nächstes geschah. Die Mädchen der Alten Weiblichen würden sie verraten.
Am nächsten Tag trödelte die Gruppe herum, versuchte die Kinder in der Nähe zu halten, und schließlich sahen sie, dass fast alle feindlichen Mädchen in der Nacht verschwunden waren. Daraus schlossen Maire und Astre, dass es nicht vorrangig darum ging, sie und ihre Kinder loszuwerden.
Maire, Astre und ein paar andere warteten, bis es dunkel war, und begaben sich dann zu einem kleineren Hügel, von dem aus sie ihre eigene Küste und diesseits davon den Todesfelsen und die große Kluft mit der Grube sehen konnten, in die man einst Mädchen als Opfer geworfen hatte.
Maire dachte angestrengt darüber nach, was sie über diesen Ort wusste, denn er wurde verehrt, weil er mit den Opferungen und wahrscheinlich mit irgendeiner Gottheit in Verbindung stand. Sie wusste nicht viel. An der Meerseite des Bergs oder der Felsspitze, die möglicherweise vulkanischen Ursprungs war, befand sich die Kluft, durch die zur entsprechenden Zeit die roten Blumen trieben. Die Kluft, so nehmen wir inzwischen an, war die Gottheit, die dem roten Fluss der Spalten entsprach, der darüber hinaus mit dem Mond in Verbindung gebracht wurde und ihn widerspiegelte. Wenn wir zurückblicken und überlegen, woher unsere Götter stammen, kann man nicht immer ohne Weiteres sagen, was genau göttlich war. Wir haben schließlich nicht vor, die Hänge des Olymps zu erklimmen! Und erwarten nicht, Venus den Wellen entsteigen zu sehen!
Doch jene Kluft, jene Felsspalte hatte etwas Bedrohliches, Furchterregendes, obwohl der Gipfel gar nicht schwer zu erreichen war. Auf der dem Meer zugewandten Seite befanden sich die Felsspalte und jene Höhle, in der man durch Risse und Furchen die Skelette sehen konnte, die Schädel, den weißen Staub der Knochen. Doch auf der anderen Seite wand sich ein Pfad sanft hinauf. Ganz oben befand sich eine Plattform, die von einer eher flachen Umrandung eingegrenzt war. Dort hatten viele Mädchen zitternd gestanden, bevor man sie in die Knochengrube warf. Nicht nur Gerüche des Verfalls stiegen aus der Tiefe auf – es gab dort Dämpfe, die die Mädchen zunächst verwirrten und dann betäubten, sodass sie bewusstlos waren, bevor sie hinabgestoßen wurden. Wir, die männlichen Wesen, gehen davon aus, dass dergleichen nicht mehr praktiziert wurde, vor allem deshalb, weil Maire und Astre und ihre Verbündeten an diesen Ort gar nicht dachten, als sie sich fragten, was die Alten im Schilde führten. Sehr wahrscheinlich hatte es schon so lange keine Opferungen mehr gegeben, sie waren in Vergessenheit geraten.
Als es hell wurde, konnten sie alles überblicken, vom weiten Meer bis hin zu dem Berg, hinter dem das Tal der Jungen lag. Nichts rührte sich. In der Ferne an ihrer Küste war an winzigen Klecksen und Pünktchen zu erkennen, dass nicht alle Mädchen zum Muschelsammeln aufgebrochen waren. Einige Adler zogen ihre Kreise über dem Berg. Und dann, gegen Mittag erst, näherte sich eine Gruppe feindlicher Mädchen ziemlich langsam von den Felsen her. Sie ließen sich Zeit und rasteten auf dem Todesfelsen, als
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