Die Kluft: Roman (German Edition)
überredet wurden, den Pfad zum Gipfel hinaufzusteigen, und dass die Mädchen ihnen lächelnd und freundlich folgten.
Da die Klippe nicht übermäßig hoch war, dauerte der Aufstieg nicht lange, und schon bald waren die jungen Männer oben angekommen. Dort befand sich am Rand des großen Lochs oder uralten Kraters ein breiter Vorsprung, der ganz flach und ausgetreten war von den Füßen derer, die über Ewigkeiten dort gestanden und den entsetzlichen Opferritualen zugesehen hatten. Die Plattform, auf der die Opfer stehen mussten, um die lähmende Dosis tödlicher Gase einzuatmen, lag ein kleines Stück weiter zur Innenseite hin. Die Jungen waren begeistert von den Schwierigkeiten des Aufstiegs und davon, dass sie auf ihrer Anhöhe den Ozean und den Berg und die Adler sehen konnten, und als sie sich umwandten, um alles zu bewundern, und dicht unter sich die Mädchen sahen, lächelten sie und streckten die Arme aus. Die Mädchen blickten sie an. Sie waren so schön, diese männlichen Wesen, diese Jungen, die Ungeheuer, auf die ihr Hass gerichtet war … was hassten sie eigentlich an ihnen? Nun hätten die Mädchen die Jungen dort zurücklassen und den Pfad hinunter davonlaufen sollen, denn sie hatten ihre Aufgabe erfüllt. Doch dann fing eines der Mädchen an zu weinen, und dann noch eines. Sie schluchzten und streckten die Arme aus, als wollten sie die Jungen flehentlich bitten … nun ja, sich zu retten. »Rettet euch«, riefen Maire und Astre. Sie kannten die Jungen gut genug, um zu wissen, dass sie wenig später vom Rand der Grube auf die Plattform springen würden, einfach nur, weil sie da war, weil sie eine Herausforderung und Schwierigkeit darstellte.
Die Mädchen schrien: »Kommt herunter, nicht, nicht, kommt zurück.«
Alle Mädchen schrien und streckten die Arme aus und weinten.
Eine oder zwei hatten den Jungen zugerufen, dass sie hinunter auf die Plattform springen sollten: Nicht alle weiblichen Wesen hatten bemerkt, wie schön die Jungen waren … dieses Wort hatten sie bislang nicht mit ihnen in Verbindung gebracht. Und es war aufregend, die Jungen springen zu sehen. Die Mädchen fanden die Jungen aufregend. Sie stellten fest, dass sie Verlangen verspürten, zumindest einige von ihnen.
Maire stieg dicht gefolgt von Astre den Pfad hinauf, und hinter ihnen kamen die anderen. Überall in der Wand der Klippe standen die weiblichen Wesen. Die Jungen erkannten Maire und Astre, die ältesten der weiblichen Wesen, die zu ihnen gekommen waren, weibliche Wesen mit Brüsten voller Milch, Lehrerinnen, Beraterinnen, Freundinnen, und als die beiden ihnen zuriefen, dass sie zurückkommen sollten, wollten sie das auch tun. Doch ein Junge, der keiner Gefahr widerstehen konnte, war schon hinunter auf die Plattform gesprungen. Als Maire und Astre den kreisförmigen Vorsprung erreichten, auf dem die Jungen sich drängten, schwankte und stürzte ihr Pionier, womöglich der erste, der je einfach so zum Spaß in einen Vulkankrater gesprungen war. Wenn er in die andere Richtung gefallen wäre, wäre er in den Abgrund gestürzt, in dem aufgehäufte Knochen für sich sprachen. Maire sprang auf die Plattform hinunter und zerrte ihn mithilfe von Astre weg, hinauf auf die Umrandung, wo ihn die frische Luft wieder zum Leben erweckte. Nun mussten sie den männlichen Wesen erklären, was die verlockenden weiblichen Wesen vorgehabt hatten: sie umzubringen.
Einige junge Männer hatten sich bereits davongeschlichen, und einige Mädchen waren ebenfalls unterwegs zu ihrer Küste.
Maire und Astre zerrten an den Jungen, zogen sie vom Rand der Grube weg. Alle waren äußerst verwirrt. Die Jungen hatten lächelnde, freundliche Spalten gesehen und nicht begriffen, dass sie ihnen nach dem Leben getrachtet hatten, und nun waren ihre alten Freundinnen Maire und Astre und andere Spalten da, die sie gut kannten. Weil Maire und Astre so drängten, gingen die Jungen tatsächlich den Pfad hinunter, doch sie waren umgeben von Spalten, die ihnen unbekannt waren. Welche waren Freundinnen? Und welche Feindinnen?
Als sie den Todesfelsen erreicht hatten, drängten sich alle in freundschaftlichen Umarmungen zusammen, und es kam zu dem, was wir eine Orgie nennen. Doch es liegt schon im Begriff der Orgie, dass eine verbindliche Ordnung gestört wird oder zusammenbricht. Wie kann man eine Orgie feiern – oder auch nur das Wort benutzen –, wenn es nie auch nur andeutungsweise Verbote gegeben hat, Vorbehalte oder Vorlieben, ganz zu schweigen von
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