Die Kluft: Roman (German Edition)
Sitten und Gebräuchen?
Einige Mädchen, die die Jungen gerade noch in den Tod hatten locken wollen, sahen inzwischen, was vorging, und kehrten zurück, um ihrerseits teilzunehmen.
Gestützt von ein paar Mädchen, die zur Küste zurückgelaufen waren, kam wegen des Lärms eine Alte Weibliche herbei und dachte bei dem Anblick, der sich ihr bot, dass hier Gewalt angewendet oder sogar gemordet wurde. Sie fing an, ihre Mädchen anzufeuern, damit sie die Jungen verletzten, wann immer sie konnten. Allmählich begriffen die männlichen Wesen, dass sie anwesend war, und schließlich sah sie in die Gesichter, die sich ihr zuwandten, und merkte, dass man in ihr die Anstifterin der versuchten Morde erkannte. Ihre eigenen Mädchen wussten, dass es so war, und sagten es den anderen Mädchen, und schließlich verstanden es die männlichen Wesen auch.
Sie war allein. Maire und Astre waren mit jungen Männern beschäftigt, die mit Fug und Recht als Väter ihrer Kinder zu bezeichnen waren, und konnten nicht sehen, was vorging. Einer der Zapfen – derjenige, der auf der Plattform für eine Weile bewusstlos gewesen war –, hob einen Stein auf und warf ihn ihr an den Kopf. Der erste Mord, der in den Annalen der männlichen Wesen verzeichnet ist, geschah an diesem Tag (der allererste war vergessen). Vermutlich gab es noch weitere, und die Tötung der zuerst geborenen Ungeheuer in der Frühzeit bleibt ohnehin unerwähnt.
Die Leiche der Alten Weiblichen wurde auf dem Todesfelsen den Adlern vorgeworfen.
Die Jungen kehrten zurück in ihr Tal: Einige Mädchen begleiteten sie. Maire und Astre gingen zu ihren Höhlen. Zumindest versuchten sie das.
In der Zwischenzeit hatte sich noch etwas zugetragen. Als Maire und Astre an diesem Morgen ihren Beobachtungsposten verlassen hatten, waren Säuglinge und Kleinkinder in der Obhut freundlicher Spalten geblieben, die wohl nicht viel darüber wussten, was gerade vorging. Hin und wieder sahen sie, dass die Mädchen der Alten Weiblichen die Jungen den Berg hinunterlockten und sich die Jungen ihren Spaß daraus machten. Irgendwann sah es so aus, als wäre die gesamte Klippe bei der Kluft voller Mädchen, ohne dass man jedoch erkennen konnte, ob es Verbündete der Alten oder von Maire und Astre waren. Was sie sahen, wirkte wie eine Schlacht, die auf dem gesamten Todesfelsen geschlagen wurde. Dass die Alte Weibliche ums Leben kam, sahen sie nicht. Mädchen, die entweder mit den Alten oder mit Maire und Astre verbündet waren, strömten zur Küste zurück. Dann stiegen zahlreiche Jungen mit einigen Mädchen an ihnen vorbei den Berg hinauf. Und als Nächstes stießen die Adler im Sturzflug vom Berg zum Todesfelsen hinab.
Die Säuglinge und Kinder auf dem Beobachtungsposten quengelten mittlerweile und waren unruhig. Kein Bote war gekommen, um ihnen zu sagen, was vorging. Schließlich stieg jene Gruppe von Mädchen mit den Kindern vom Beobachtungsposten hinab bis auf die Höhe des Todesfelsens, wo sich zahlreiche Adler versammelt hatten und mit Schnäbeln und Klauen Fleischstücke zerrissen, die nicht von Kindern stammen konnten. Bald weinten die Kinder laut, weil sie Angst vor den Adlern hatten. Schließlich kehrte die lärmende Gruppe zur Küste zurück, wo ihnen feindliche Mädchen den Weg versperrten und sie mit Steinen bewarfen, sogar die Kinder. Die Alten Weiblichen Wesen am Ufer gestikulierten und drohten: Es war eindeutig, dass sie ihren Mädchen befahlen, die Kinder zu fangen und sich ihrer zu entledigen – das Meer war nicht weit weg. Die Mädchen, die für die Kinder verantwortlich waren, konnten wegen der Kleinen nicht davonlaufen, obwohl offensichtlich war, dass man auch ihnen Schaden zufügen wollte. Sie standen an der Stelle, wo der Küstenstrich anfing, und wollten die Alten zu Hilfe rufen. »Helft uns« – sie wussten nichts von der Verschwörung, deren Opfer sie beim Muschelsammeln hatten werden sollen, und nichts von dem Plan, alle Jungen zu töten. Die Alten waren zwar schon lange nicht mehr freundlich zu Maire und Astre und ihren Mädchen gewesen, doch das war schließlich kein Grund, Mordpläne zu vermuten.
Als jene Mädchen mit den Kindern hinauf zu ihren Höhlen klettern wollten, versperrten ihnen wiederum feindliche Spalten den Weg – und von diesem Moment an gab es zwei offen verfeindete Gruppen von Spalten, die nur darauf aus waren, einander Schaden zuzufügen. Die Mädchen mit den Kindern kämpften sich durch die feindseligen Reihen hindurch, denn ihre Hilflosigkeit
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