Die Knochenfrau
geriet mit der Beifahrerseite in ein Schotterfeld, der Wagen kam ins Schlingern, rutschte zurück auf die Straße, schrammte an der Seite eines entgegenkommenden LKWs entlang und drehte sich. Lukas erlebte all dies staunend und friedlich. Es kam ihm nicht so vor, als wäre er an der Sache beteiligt. Unangenehm nur, dass es um ihn herum plötzlich so laut war. Er spürte, wie sein Kopf hin und her flog und war erstaunt darüber, dass sich das Ding so selbstständig machen konnte. Das letzte, was er sah, war das kleine Papierschiffchen, das Yvonne für ihn gefaltet hatte. Wie in Zeitlupe flog es an seinem Gesicht vorbei. Dann wurde alles schwarz und still.
Als Lukas aufwachte, da hörte er neben sich das Piepsen irgendeiner Maschine. Er lag in einem Bett, über ihm baumelte etwas Beigefarbenes, und mit dem Rücken zu ihm stand eine Frau in einem blauen Kittel. Sie hatte einen Pferdeschwanz, der von einem roten Gummi zusammengehalten wurde. Lukas versuchte, seine Beine zu bewegen und schaffte es. Dann die Arme – auch das ging.
„Hallo, wie geht’s uns denn heute?“, fragte Lukas die Krankenschwester. Sie drehte sich zu ihm um und beugte sich über sein Gesicht.
„Sagen Sie das bitte noch einmal. Ich habe Sie nicht verstanden.“
Lukas atmete durch und sammelte Kraft. Er war furchtbar müde und sein Hals tat weh.
„Nicht wichtig … wollte nur einen Witz machen.“
Die Frau lächelte Lukas an und Lukas lächelte zurück.
Ende
Epilog
Lukas hatte nur sechs Tage im Krankenhaus verbracht. Es war einiges aber nichts wirklich Schlimmes: Schleudertrauma, Gehirnerschütterung, diverse Kratzer und Prellungen, die Platzwunde am Kopf, die Wunde am Brustbein und ein entzündeter Schnitt an der Ferse. Die Ärzte fragten sich, wie all diese Verletzungen zustande kamen, sie passten überhaupt nicht zu dem Autounfall. Seinen Eltern, die ihn zweimal besuchen kamen, log Lukas vor, dass er in Rothenbach einen alten Schulfreund besucht habe.
Die Wunden heilten und Lukas erholte sich schnell. Der Stationsarzt sagte ihm am Tag vor der Entlassung, er habe Glück im Unglück gehabt. „Na wenn Sie meinen”, antwortete Lukas schlechtgelaunt. Die verdammten Kopfschmerzen hatten kurz nach dem Aufwachen eingesetzt und verschwanden erst völlig, als Lukas schon wieder aus dem Freiburger Klinikum heraus war.
Zu Frau Schneider ging Lukas zwei Tage nach seiner Entlassung. Sie sah gesund aus, hatte zugenommen. Er schob sie mit dem Rollstuhl in ihr Zimmer und erzählte ihr, was er erlebt und was er getan hatte. Die alte Frau weinte fast eine halbe Stunde und Lukas wusste nicht, ob ihre Tränen Freudentränen waren oder ob sie um ihre Tochter und ihren Mann weinte.
Bei seinem nächsten Besuch eine Woche später, buchstabierte Frau Schneider Lukas, dass das Haus in Rothenbach zum Verkauf stehe. Sie wollte nicht dorthin zurück, wo sie ihre Tochter und ihren Mann verloren hatte.
Auch seinem Bruder versuchte Lukas zu erzählen, was passiert war. Aber der blockte sofort ab und erinnerte Lukas an sein Versprechen, ihn mit der Angelegenheit in Ruhe zu lassen. „Hauptsache, dir ist nichts passiert, Lukas. Wir haben uns alle Sorgen gemacht, als wir gehört haben, dass du im Krankenhaus liegst.”
Etwa zwei Wochen, nachdem er Rothenbach verlassen hatte, rief Lukas Yvonne an. Vielleicht wollte sie ja über das sprechen, was passiert war, vielleicht konnte man ein paar Sachen klären ... außerdem tat ihm die Kleine irgendwie leid, obwohl sie mit einem Messer auf ihn losgegangen war. Yvonne ging ran, legte aber gleich auf, nachdem Lukas seinen Namen gesagt hatte. Danach versuchte er es nicht wieder.
Lukas nahm sein kleines, unbedeutendes, aber durchaus erträgliches Leben wieder auf. Er räumte einmal die Woche seine Wohnung auf, lernte eine Frau kennen, die er sehr nett fand, und abends stand er wieder hinter der Bar. Ab und zu musste er noch an Nadine und an die gemeinsame Nacht denken, aber das legte sich. Die Bilder der toten Knochenfrau sah sich Lukas nicht mehr an. Er speicherte sie auf seinem Rechner und gab dem Ordner einen unauffälligen Namen.
Und nachdem einige Wochen vergangen waren, glaube Lukas auch nicht mehr, dass sich die Polizei noch bei ihm melden würde.
Eines Nachts – es waren nur noch wenige Gäste an der Bar, die Musik war schon abgestellt und man war schon am Aufräumen – hörte Lukas ein Gespräch mit an.
„Das ist doch alles Quatsch”, sagte ein Mann in einer dunkelgrauen
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