Die Knochenfrau
FRESSE EINGESCHLAGEN!”
Lukas' Drohung erzielte Wirkung. Yvonne trat einen Schritt zurück.
„Wenn du mich angreifst, dann bring ich dich um, dann schlag ich dich tot. Und wenn ich nachher hier an diesem Rohr verrecke”, knirschte Lukas.
Yvonne wich noch ein wenig mehr zurück. Aus dem Augenwinkel sah Lukas, dass sich im Dunkel hinter der kleinen Tür etwas bewegte. Das Vieh kommt heraus! Das verdammte Vieh kommt heraus! Er packte mit beiden Händen das Fahrradschloss und zerrte mit aller Kraft daran. Vielleicht konnte er ja die Kette zerreißen … so dick war die nicht. Aber die Kette riss nicht, stattdessen bewegte sich das Rohr. Lukas spürte es, das Ding war nicht fest. Vielleicht konnte er es aus der Verankerung brechen. Kurz glaubte er, oben an der Treppe eine Bewegung gesehen zu haben. Mit all seiner Kraft riss Lukas an der Kette, langsam aber sicher lockerte er das Rohr. Noch zwei- oder dreimal und dann …
Lukas hatte nur den Bruchteil einer Sekunde unter der Anstrengung die Augen geschlossen. Und genau in diesem Moment hatte sie ihn angegriffen, war mit der Klinge voran auf ihn losgestürmt. Lukas versuchte noch, ihren Arm zur Seite zu schlagen, schaffte es aber nicht mehr. Wie in Zeitlupe sah Lukas das Messer in seine Brust eindringen. Dann stoppte es. Er spürte gleichzeitig Schmerz und Erleichterung. Sie hatte sein Brustbein erwischt aber nicht durchstoßen, der Knochen hatte das Messer aufgehalten. Mit beiden Händen packte Lukas Yvonnes Arm, schob ihn von sich weg und zog sich so das Messer aus der Brust. Sie hatte nicht hart zugestoßen, sie hatte es nicht gekonnt. Lukas sah die großen, erschrockenen Augen der Sechzehnjährigen, wie gebannt starrte sie auf den roten Punkt, der sich auf seinem Shirt ausbreitete. Wäre sie wirklich entschlossen, mich zu töten, dann hätte sie es gleich getan. Dann hätte sie mich nicht erst an dieses Rohr gefesselt. Sie ist nur ein Mädchen, das nicht weiß, was es tun soll. Sie ist völlig überfordert mit der Situation.
Lukas nahm ihr das Messer ab, ohne dass sie sich dagegen wehrte. Dann stieß er Yvonne von sich weg. Sie landete auf dem Rücken, stützte sich mit den Armen ab und starrte immer noch auf den roten Fleck.
Schnell steckte sich Lukas das Messer in den Gürtel, legte seine Hände um das Fahrradschloss und riss daran. Das Rohr lockerte sich immer mehr. Yvonne war drei Meter vor ihm, sie stand auf. Gleich hatte er das verdammte Ding los, das verfickte Ding musste doch langsam … Plötzlich hatte Yvonne eine lange Holzlatte, sie hielt das Ding in beiden Händen, wie einen Baseballschläger. Und sie kam wieder näher. Das hatte Lukas nicht erwartet. Er begriff, dass er gerade einen Fehler gemacht hatte. Vielleicht war diese Sechzehnjährige ja wirklich fähig, ihn zu töten. Dieser kalte Blick, den sie plötzlich hatte. Gerade eben hatte sie noch ausgesehen wie ein erschrockenes Kind. Was zum Teufel war mit ihr los?
Lukas brüllte auf und riss mit aller Kraft an der Kette, Blut lief ihm in die Augen und verschleierte ihm die Sicht, in seinem Schädel dröhnte und rauschte es. Das Rohr bewegte sich immer mehr, Yvonne kam immer näher und … plötzlich hörte er einen dumpfen Schlag und das Mädchen fiel zu Boden. Ihr Körper gab den Blick frei auf ihre Mutter. In der rechten Hand hielt die Frau etwas, das wie ein großer Diamant aussah. Lukas brauchte einige Sekunden, um zu erkennen, dass es der verdreckte Kristallaschenbecher war, mit dem sie vorhin auf ihn losgegangen war. Sie hatte ihrer Tochter das Ding über den Schädel gezogen.
*
Die Frau mit dem zerstörten Gesicht kniete neben Yvonne auf dem Boden und befühlte die frische Wunde. Es sah schlimm aus: Glänzendes, blutverklebtes Haar.
„Ist sie tot?”, fragte Lukas und versuchte, sich das Blut aus den Augen zu wischen.
„Sie atmet”, sagte die Frau und lächelte dabei. „Meine Kleine hält was aus.” Die letzten fünf Worte sagte sie leise und – so schien es Lukas – voller Liebe. Ein schneller Blick zur Tür in der Wand. War da eine Bewegung?
„Machen sie mich los! Machen Sie mich um Himmels Willen los!”
Die Frau antwortete nicht, sah nur ihre Tochter an. Lukas warf einen weiteren Blick auf die kleine Tür in der Wand. Die Frau sah es.
„Keine Sorge, sie kommt nicht raus. Sie versteckt sich. ”
Lukas zerrte wieder an der Fahrradkette. Das Rohr bewegte sich und federte zurück.
„Streng dich nicht so an, mein Kleiner.” Und dann, nach einer Pause: „Sie
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