Die Knochenfrau
kann nicht mehr fliehen, stimmt's?”
„Das hoffe ich”, antwortete Lukas. „Bitte machen Sie mich jetzt los.” Er musste sich beherrschen, sie nicht anzuschreien.
„Ich mach dich gleich los … keine Sorge, mein Junge.” Die Frau streichelte Yvonne über den Kopf. „Meine Kleine wollte nicht, dass du ihr was tust.”
„Und warum nicht?”, fragte Lukas. Immer noch zerrte er an der Fahrradkette.
Die Frau in dem Bademantel lachte in sich hinein und schob den Aschenbecher weg.
„Bei Yvonne hat es angefangen, als sie vier Jahre alt war. Wir sind hierher gezogen, in dieses alte Haus. Sie hatte nie richtige Freunde, meine Süße. Irgendwann hab ich sie nachts lachen gehört und bin in ihr Zimmer gegangen. Sie ist in ihrem Bettchen gesessen und war ganz glücklich. Ich habe sie nur ganz selten so glücklich gesehen. Sie hat mir erzählt, dass ganz viele kleine, leuchtende Vögel um ihr Bett herumgeflogen sind. Und da wusste ich, dass sie noch da ist.”
Yvonnes Mutter brachte wieder so etwas wie ein Lächeln zustande. Sie fuhr ihrer Tochter durchs Haar, untersuchte die Platzwunde.
„Schon mein Großvater hat gewusst, dass sie hier unten ist. Er hat uns Kindern immer verboten, nach unten zu gehen. Wir durften nicht in den Keller und erst recht nicht in den Erdstall. Aber natürlich haben wir rausbekommen, dass hier unten etwas lebt … sie hat ja mit uns gespielt, sie hat uns Sachen gezeigt. Sie war unsere unsichtbare Freundin … uns hat sie nie was getan … und Yvonne später auch nicht. Sie war Yvonnes einzige Spielgefährtin.”
„Was meinen Sie mit Erdstall?”, fragte Lukas und zog an dem Fahrradschloss. Solange diese Frau auf dem Boden saß und mit ihm redete, kam sie nicht auf irgendwelche Ideen.
„Hinter dieser Tür, der Raum hinter dieser kleinen Tür, dazu sagt man Erdstall. Den haben vor vielen Jahrhunderten irgendwelche Leute gegraben, als Versteck und als Fluchtweg … also wenn Krieg war, dann konnte man da Zuflucht suchen. Davon geht auch ein Tunnel ab, durch den man fliehen kann.”
„Den kenn ich, den Tunnel.” Lukas zog immer noch an der Kette, obwohl ihm seine Versuche mittlerweile aussichtslos erschienen. Yvonnes Mutter musste lachen und in dem schummrigen Licht sah ihr Gesicht noch tragischer aus. Es hatte etwas von einem alten, müden Kampfhund.
„Wusste Ihr Großvater auch, dass dieses Vieh Kinder umbringt?”
„Natürlich wusste er das”, sagte die Frau. „Es liegt in ihrer Natur … deshalb durften wir als Kinder auch nie in den Keller.”
„Wenn er das gewusst hat, dann hätte er sie verdammt nochmal töten müssen”, sagte Lukas. „Oder war dieses Vieh so eine Art Haustier für ihn?”
„Sie ist kein Haustier. Sie ist etwas Besonderes. Sie ist Jahrhunderte alt.”
„Und sie bringt seit Jahrhunderten Kinder um”, sagte Lukas.
Yvonnes Mutter machte einen Ton, der wie ein trauriges Lachen klang. Einige Sekunden betrachtete sie ihre blutverschmierte rechte Hand.
„Sie hat Jahrzehnte keinem Kind etwas getan.”
„Doch, das hat sie”, sagte Lukas. „Sie hat meinen Bruder und meinen besten Freund angegriffen. Und vor ein paar Tagen hat sie einen Jungen getötet.”
„Ich weiß … ich habe es in der Zeitung gelesen. Es liegt in ihrer Natur, sie kann nicht anders.“ Die Frau im Bademantel sah Lukas an, als erwarte sie eine Antwort. Es kam aber keine. Leise stöhnte sie in sich hinein, sprach dann weiter.
„Ich mach dich jetzt los, mein Kleiner.” Und mehr zu sich selbst als zu Lukas: „Dann soll es jetzt ein Ende haben.“
Ganz vorsichtig legte die Frau den Kopf ihrer Tochter auf den harten Boden, zog einen kleinen, runden Schlüssel aus Yvonnes Jackentasche, stand langsam auf und ging die drei Schritte bis zu Lukas. Er traute ihr nicht, hielt seine Hand in der Nähe des Messers, das er Yvonne abgenommen hatte. Die Frau in dem Satin-Bademantel (der im Glühlampenlicht eher schmutzig braun als rot wirkte) gab Lukas den Schlüssel.
„Mach du das, meine Hände zittern.”
Lukas nahm den Schlüssel. Sein Blick fiel auf den Kristallaschenbecher, der neben Yvonne lag.
„Sie hätten ihr den Schädel einschlagen können, mit dem Ding. Sie hätten sie umbringen können.“
Die Frau antwortete nicht, zuckte nur mit den Schultern. Als Lukas das Schloss geöffnet hatte, da hörte er ein leises Stöhnen. Yvonne kam zu Bewusstsein. Sie hatte Glück gehabt, ihre Mutter hatte ihr nicht den Schädel gebrochen.
„Da drüben liegt deine Waffe.” Die Frau
Weitere Kostenlose Bücher