Die Knochenfrau
Wohnungstür. Eigentlich war er ja ein friedlicher Mensch ... aber eben nur eigentlich. Zu viel ist zu viel! Er riss die Tür auf, machte zwei Schritte zur Tür seines Nachbarn, schlug gegen das Holz ... schlug noch mal, schrie einer plötzlichen Eingebung folgend „Polizei! Aufmachen!” und dann – das hatte er nicht erwartet – öffnete sich tatsächlich die Tür und Lukas sah in das Gesicht des blöden, kleinen Kiffers, der kurz nach acht Techno hörte.
Was dann geschah, das war eigentlich untypisch für Lukas, der zeit seines 35 Jahre währenden Lebens ein eher gelassener Mensch war. Lukas stürmte in die Wohnung, stürmte zu der Anlage, die den Lärm verursachte, packte sich den Verstärker, riss ihn vom Regel, hob ihn über seinen Kopf und knallte das Gerät mit aller Kraft auf den Boden. Das Ding war mausetot, kein Geräusch mehr. Nie mehr. Es war hinüber, so hinüber, wie es nur sein konnte.
„Hey Mann ... bist du irre?”, fragte der Kiffer und starrte Lukas mit großen Augen an.
Er bekam keine Antwort. Lukas verließ die Wohnung, ging nach drüben und legte sich wieder ins Bett. Kurz dachte er an die möglichen Konsequenzen seines Angriffs auf die nachbarliche Stereoanlage, merkte dann aber, dass ihm das, was er gerade getan hatte, extrem gut gefiel. Er hatte es der Welt da draußen gezeigt ... zumindest einmal ... zumindest ein bisschen. Lukas war zufrieden mit sich. Mit einem Grinsen auf dem Gesicht schlief er ein, träumte allerlei wirres Zeug und erwachte kurz nach halb elf.
Etwa zehn Minuten fühlte sich Lukas wohl in seinem großen, warmen und ein bisschen stinkenden Bett. Dann meldete sich seine Spießerseite – so nannte er sie selbst, manchmal nannte er sie auch einfach Manfred – zu Wort und verdarb ihm die Laune:
„Lukas, du musst dem Typen die Anlage ersetzen. Sonst zeigt der dich noch an. Und sowieso musst du aufstehen, es ist halb elf und nicht Wochenende. Du musst dir endlich einen richtigen Job suchen, du bist Mitte dreißig. Du musst endlich mal eine richtige Beziehung führen, nicht nur so etwas Halbes wie mit Paula. Du musst Kinder zeugen und ein Haus bauen und einen Gartenteich anlegen. Du musst, du musst, du musst. Du hast keine Zeit mehr, Lukas. Schau dir mal an, was deine Klassenkameraden machen. Die sind schon verheiratet und haben schon Kinder und Häuser und schicke Autos. Es ist keine Zeit mehr Lukas! Steh jetzt auf und geh das an, alles heute, alles sofort ... jetzt gleich! Du bist keine zwanzig mehr!”
Lukas stöhnte und wollte gerade aufstehen. Da meldete sich plötzlich seine Punkseite – ebenfalls ein Ausdruck, den Lukas selbst benutzte. Manchmal nannte er sie auch Hank – zu Wort:
„Ach scheiß drauf. Bleib liegen. Du musst überhaupt nichts außer atmen, essen, scheißen und irgendwann sterben. Das ist alles nur Einbildung. Und schau dir mal die ganzen Deppen an, mit ihren Jobs und ihren blöden Autos und ihren Häusern und ihren nervigen Beziehungen. Denkst du, die sind glücklich? Lukas, du bist stark genug, du kannst ein anderes Leben führen, wenn du willst. Aber jetzt bleib erst mal liegen. Du hast es nicht eilig. Mach dich nicht verrückt mit dem ganzen Scheiß. Hab keine Angst, Mann!”
Lukas drehte sich auf den Bauch. Leise sang er „Oh wie ist mir zumute, zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust.”. Er gab den Worten eine Melodie, wusste aber nicht, ob tatsächlich so ein Lied existierte. Irgendwo hatte er das mal gehört oder gelesen. Die Zwei-Seelen-Diagnose hatte ihm vor einigen Jahren eine Bekannte gestellt, die zwar als Rechtsanwaltsgehilfin arbeitete, tief in ihrem Herzen aber Psychologin und Amateurtherapeutin war. Lukas stimmte dieser Diagnose im Grunde zu und nannte seine beiden Seelen spaßeshalber Hank und Manfred.
Hank hörte gerne laute Musik, schiss auf Konventionen, trank zu viel und legte sich ab und zu mit Leuten an, die ihm gefährlich werden konnten.
Manfred hingegen legte Wert auf Sicherheit. Er schätzte ein ausgeglichenes Konto und eine stabile Beziehung, war bedacht auf Unauffälligkeit in sozialen Dingen und geriet ab und zu in Panik, weil Lukas – also das, was herauskommt, wenn man Hank und Manfred zusammensperrt – mit Mitte dreißig weder Kinder, noch einen anständigen Beruf, noch eine Reihenhaushälfte und nicht einmal ein halbwegs ansehnliches Auto hatte.
Lukas umarmte sein Kopfkissen, ließ einen fahren und blieb liegen ... allerdings nur zehn Minuten. Diesmal hatte die Punkseite (also Hank) nicht gewonnen,
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