Die Knochenfrau
Veränderungen. Sie sah, wie seine Haut eine gelbliche Farbe annahm. Sie sah, wie seine geöffneten Augen stumpf wurden. Sie bemerkte, dass er zu stinken anfing und einige Male hörte sie die Geräusche, die sein verwesender Körper von sich gab. Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. Sie wollte ihn nicht sehen und schaute dann doch wieder hin. Einige Male weinte sie, konnte sie sich einfach nicht beherrschen. Sie versuchte ja, es zu unterdrücken. Sie versuchte auch, ihren Urin bei sich zu behalten. Aber es gelang nicht. Sie verlor Flüssigkeit und wurde immer schwächer.
Wann verdurstet man? Wann ist es so weit? Dass man es einige Tage ohne Nahrung aushalten konnte, das wusste Frau Schneider. Aber wie lange ohne Flüssigkeit?
Am Ende des zweiten Tages war ihr Körper ein einziger Schmerz. Sie glaubte, wahnsinnig zu werden. Sie wünschte sich, zu sterben. Und doch wusste sie, dass sie nicht sterben durfte. Sie dachte an die guten Zeiten, sie empfand sogar Liebe beim Anblick seines Leichnams. Was da lag, das war immer noch ihr Mann. Und seine letzten Worte waren: „Ich liebe dich“. Hatte er sie wirklich noch geliebt? Nach dem verdammten Schlaganfall? All die Jahre, die sie nur noch im Bett lag, unfähig zu sprechen, sich zu bewegen. Hatte er sie wirklich geliebt, sogar wenn sie sich einpinkelte, wenn er ihr den Hintern wischte? „Ich liebe dich!“ Das waren seine letzten Worte. Und wenn er gelogen hatte, dann war es eine schöne Lüge. Konnte man überhaupt noch lügen, wenn man starb?
Steh auf , dachte die alte Frau. Bitte steh auf. Erwach einfach wieder zum Leben! Bitte lieber Gott, bitte mach, dass er wieder aufsteht! Komm doch bitte ein einziges Mal aus deiner Reserve und mach etwas! Bitte lieber Gott!
Der Mann würde nicht aufstehen, sie sah es ein. Da war kein liebender Gott, der mit dem Finger schnippte und die Toten erweckte. Da war nur kalte Leere. Und es würde auch kein biologisches Wunder geben. Kein elektrisches Signal, dass dem toten Leib plötzlich wieder Leben gab.
Wilma Schneider versuchte, sich auf ihren eigenen Körper zu konzentrieren. Vielleicht war dieser Schmerz leichter zu ertragen. Vielleicht konnte sie ja balancieren, zwischen der Trauer und der Verzweiflung auf der einen Seite, und dem körperlichen Schmerz auf der anderen. Vielleicht ging es so irgendwie.
Die Körperhälfte, auf der Frau Schneider lag, war ein einziges Jucken, Drücken und Brennen. Sie hatte das Gefühl, zu verwesen, sich aufzulösen. Sie roch ihren eigenen Gestank, ihren Schweiß und ihren Urin. Und der verdammte Durst. Sie brachte nicht einmal mehr genug Speichel zusammen, um ihren Mund zu befeuchten.
Die zweite Hälfte des dritten Tages nach dem Tod ihres Mannes war brutal. Die Kopfschmerzen waren unerträglich und Frau Schneider musste sich eingestehen, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Sie wusste nicht mehr, welcher Tag und welcher Monat war. Dann kam eine weitere Nacht, die dritte mit dem toten Mann neben ihrem Bett ... ihrem Mann. Wilma Schneider hörte nichts, nur ihren eigenen Herzschlag. Kein Bellen und kein Kratzen an der Tür, kein Kinderlachen ... und auch keine Schritte auf dem Dach. Keines der Geräusche, mit denen diese verdammte Kreatur sie in den letzten Jahren gequält hatte. Es war ruhig, nur ab und zu ein Auto oder ein Geräusch aus dem Wald. Zumindest ließ dieses verdammte Ding sie in Ruhe, zumindest machte es sich nicht über sie lustig.
Gegen 22 Uhr verlor die alte Frau das Bewusstsein. Als sie merkte, dass sie in die Dunkelheit rutschte, dass ihr Blick verschwamm, da empfand sie tiefe Dankbarkeit. So fühlt sich also Sterben an, so ist das also. Frau Schneider wollte nicht mehr durchhalten. Sie wollte einfach nur, dass es vorbei war. Ihr Mund fühlte sich an wie eine einzige entzündete Wunde. Aber jetzt wurde es besser ... jetzt war es gleich vorbei.
Doch die alte Frau war nicht tot. Sie befand sich in einem Zustand irgendwo zwischen Schlaf, Bewusstlosigkeit und Todeskampf. Längst verstorbene Menschen begegneten ihr: Ihre Mutter, die Oma, ihr Vater mit Lutz, dem Hund ... dann die Rosi, ihre Patentante. Die Rosi schwamm in einem großen See und als die alte Frau ans Ufer trat, da kam die Rosi zu ihr, stieg aus dem Wasser und machte Gymnastik. Sie hatte einen großen roten Ball mit gelben Punkten. Sie hob ihn über den Kopf, warf ihn dann aufs Wasser und machte den Hampelmann. Sie rannte auf der Stelle, machte Kniebeugen und sogar Liegestütze. Dabei rief sie immer
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