Die Knochenfrau
wenn es nur Kamillentee war.
Die Hand des alten Mannes zitterte. Fast konnte er die Tasse nicht halten, so erschöpft war er. Er wusste nicht, wie er sie noch ausziehen und waschen sollte. Was zum Teufel war heute mit ihm los? Und jetzt fing auch noch das mit den Steinen an. Wieder das Lachen der Kinder. Und sie warfen kleine Steine gegen die Fenster. Pling ... pling. Das war alles nicht echt! DAS WAR ALLES NICHT ECHT!
Der alte Mann stellte zitternd die Schnabeltasse ab und befühlte seine Stirn. Er sah seine Frau an und schüttelte den Kopf.
„Heute ist es wirklich besonders schlimm, Wilma. Aber hab keine Angst ... es kann nichts passieren. Ich mach das Radio an, vielleicht kommt was Gutes.”
Er stand auf und machte ein paar Schritte auf das alte, hölzerne Radio zu, drehte dann ab zum Wohnzimmerfenster. Kalter Schweiß auf seiner Stirn und ein unbekannter Druck in seinem Leib. Wie die Hand eines unsichtbaren Fremden, die nach seinem Herzen griff, es erst nur umschloss und dann zudrückte. „Ich mach mal auf, Wilma. Man kriegt ja kaum Luft hier drin.“ Der alte Mann drehte den Fenstergriff, schaffte es aber nicht mehr, das Fenster aufzuziehen. Er taumelte zwei Schritte zurück und ging vor dem Bett seiner Frau auf die Knie. Er versuchte, wieder aufzustehen und schaffte es nicht. Es tat so verdammt weh, dass er sich auf die Seite rollte und die Beine an den Körper zog. Der unsichtbare Fremde drückte zu, drückte immer stärker. Er konnte gerade noch den Kopf zu seiner Frau drehen.
„Es tut mir leid, Wilma ... ich liebe dich.”
Dann war es ganz ruhig, es flogen keine Steine mehr an die Fenster. Mit offenen Augen lag Herr Schneider da und rührte sich nicht mehr.
Sie wollte schreien und konnte nicht. Sie wollte zu ihm und konnte nicht. Sie konnte, konnte, konnte nicht. Zweimal hatte sie geglaubt, eine Bewegung seiner Hand zu sehen. Zweimal hatte sie gehofft, er würde sich gleich wieder aufrappeln, würde sich stöhnend aufsetzen: „Geht schon wieder Wilma.“ Oder lachend: „War alles nur ein Scherz.“
Doch das Erhoffte passierte nicht. Ihr Mann war tot.
Nach einer Stunde versiegten die Tränen und die alte Frau wurde sich ihrer Lage bewusst. Manchmal hatte sie sich gewünscht, zu sterben. Aber doch nicht so! Wer sollte sie hier finden? Der nächste Verbandswechsel war in drei Tagen, dazu kam immer eine Krankenschwester. Ihr Mann hatte das nie hinbekommen mit der Wunde an ihrem Bauch, aus der der Schlauch ragte. Würde sie so lange durchhalten? Wann verdurstet ein Mensch? Und würde die Schwester überhaupt auf die Idee kommen, dass etwas nicht stimmt? Vielleicht ging sie einfach wieder.
Die alte Frau schloss die Augen und versuchte, an die guten Zeiten zu denken. Es gelang ihr nicht. Sie versuchte zu glauben, dass ihr Mann nun an einem besseren Ort war. Auch das gelang nicht. Also öffnete sie die Augen und sah den Toten an. Wieder kamen die Tränen. Sie hätte schreien müssen, sie hätte sich auf ihn werfen müssen. Sie hätte ihn packen und schütteln müssen. Aber es ging nicht. Der Schmerz steckte in ihr fest, füllte sie aus und verband sich mit dem Hass auf ihren gelähmten, nutzlosen Körper, auf diesen Leichnam, in dem sie gefangen war. Sie konnte nur weinen. Und dann fiel ihr ein, dass sie nicht weinen durfte. Sie durfte keine Flüssigkeit verlieren. Sie musste durchhalten.
*
Lukas träumte ganz großartig. Er war König eines gutgelaunten Südseeinselvolkes, das hauptsächlich aus jungen (und ausgesprochen schönen) Frauen bestand. Er saß nackt auf einem Thron aus Schokolade und hatte eine gewaltige Erektion. Gerade wollte er seine Anweisungen für den Tag (es war ein sehr schöner Tag) geben, als der Thron zusammenkrachte. Außerdem prügelte jemand viel zu schnell auf einer großen Trommel herum.
Lukas erwachte und begriff, wo er war. Er rieb sich die Augen, kratzte sich an drei verschiedenen Stellen und sah auf die Uhr. Es war viertel nach acht und sein Nachbar – dieser blöde, kleine Arsch – hörte Techno. Das durfte einfach nicht wahr sein. Das war verdammt nochmal zu viel! Lukas setzte sich im Bett auf und schlug mehrmals mit der Faust gegen die Wand. Er schlug mit Kraft, schlug eine Delle in die Rigipsplatte und schlug die kleinen Holzstücke in der Tapete platt. Als die Musik nicht aufhörte, da stand Lukas auf, schlüpfte in seine Jeans, zog sie sich hoch und kam dabei fast aus dem Gleichgewicht. Dann stürmte er barfuß und mit nacktem Oberkörper zu seiner
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