Die Knochenfrau
Überhaupt reizte ihn die Vorstellung, wieder an irgendeiner Rezeption zu stehen oder in irgendeinem Büro zu sitzen, nicht im Geringsten. Er hatte fast zehn Jahre in Hotels gearbeitet, mit der Ausbildung waren es 13. Dann hatte er die Stelle als Barkeeper bekommen und eigentlich ... ja eigentlich ... aber eben nur eigentlich ... war er ganz zufrieden damit. Er arbeitete täglich nur vier Stunden, immer von neun bis ein Uhr nachts. So kam er auf tausend Euro im Monat und manchmal gab es ordentlich Trinkgeld obendrauf. Er mochte auch die Gäste, vor allem die Frauen. Nicht, dass er wild durch die Gegend vögelte … keineswegs. Aber er mochte die Vorstellung, dass er es konnte, dass er sie haben konnte. Ja verdammt, er flirtete gerne. Aber das gehörte irgendwie dazu bei dem Job. Treu war er trotzdem, die Sache mit Paula ging nun schon fast zwei Jahre. Und auch wenn sie sich manchmal tagelang weder sahen noch miteinander telefonierten, waren sie doch so etwas wie ein Paar. Was Paula an den Tagen trieb, an denen sie sich nicht sahen, das wollte Lukas nicht wissen. Darüber wollte er nicht nachdenken.
Eigentlich , so dachte sich Lukas, schlage ich mich ganz gut … ich lebe ein Leben nach meinen Vorstellungen. Und nicht das Leben, das meine Eltern für mich vorgesehen haben. Ginge es nach ihnen, dann würde ich längst in einem sicheren Job stecken, Kinder haben und mindestens eine Eigentumswohnung, besser ein Haus mit Garten.
Wie waren noch gleich die Worte, die seine Eltern für Leute wie ihn benutzten? Ach ja: „Verkrachte Existenz”, „Gammler”, „lebensuntüchtig” … all das hatten sie ihm an den Kopf geworfen. Aber sein Kopf war noch ganz, der hielt was aus. Lukas war seinen Erzeugern nicht mal böse. Er wusste, dass diese Vorwürfe, all diese Verurteilungen, nur Produkte einer Angst waren, die seinen Eltern in den Knochen steckte. Einer Angst, die noch in der Sowjetunion – man nannte es Sozialismus, tatsächlich war die verdammte Angelegenheit nur eine Mischung aus Korruption, Dummheit, Unterdrückung und Propaganda. So hatte sich Karlo Marx das ganz sicher nicht gedacht – auf die Welt kam und in Deutschland weiter wuchs. Vor rund 36 Jahren waren die beiden nach Deutschland gekommen. Abgehauen aus einem kleinen, engen, deutschen Dorf in der damaligen Sowjetunion … und ab ins gelobte Land. Erfüllt von dem Willen, alles richtig zu machen, sich anzustrengen, zu etwas zu kommen, hatten sie sich in diesem kleinen, süddeutschen Dorf namens Rothenbach eine neue Existenz aufgebaut. Rund 3000 Einwohner hatte Rothenbach, drum herum Wald und Landwirtschaft. Dort hatte Lukas die ersten 19 Jahre seines Lebens verbracht, dort war er zur Schule gegangen. Und dort war er nie wirklich heimisch geworden. Schon als Grundschüler hatte er gespürt, dass er und die Seinen nicht dazu gehörten. Allein schon der süddeutsche Dialekt, den er kaum verstand. „Du musst dich anstrengen“, hatte sein Vater ihm gesagt … „pass dich an, integriere dich, sei wie sie“. Aber wie konnte er sich integrieren, wenn die anderen ihn nicht wollten? Wie sollte das gehen? Wie sollte er mit Leuten auskommen, die in ihm – und das obwohl er doch in Deutschland geboren war – nur „den Russen” sahen?
Lukas hasste Rothenbach. Er war froh, dass er weg war. Er war froh, dass er in der Großstadt – nun ja, es war nur Freiburg … aber immerhin – lebte. Er war froh über die Leute, die er kannte und von denen nur wenige wussten, wo genau Rothenbach überhaupt lag. Nie mehr wollte er dorthin zurück, nie mehr. Um kein Geld der Welt. Dieses beschissene Dorf, dieses Loch voller Feindseligkeit und Beschränktheit, hatte es sogar geschafft, seine Eltern zu vertreiben. Sie hatten kapituliert, nachdem sie einige Male Umschläge voller Scheiße in ihrem Briefkasten gefunden hatten. Irgendwann ging es einfach nicht mehr. All die Anpasserei führte zu nichts. 25 Jahre und sie waren immer noch die Russen, immer noch die Zugezogenen, mit denen man nichts zu tun haben wollte.
Als sie dann abfuhren, als sie ihre Wahlheimat verließen, da standen die braven Rothenbacher am Straßenrand und glotzten. Das beschissene Pack hatte gewonnen. Sie hatten die Fremden vertrieben, die doch nur irgendwo in Ruhe leben wollten.
Was Lukas nicht ahnte, während er auf seinem alten Sofa saß und seinen Gedanken nachhing: Rothenbach war näher als er glaubte.
*
Drei Tage und drei Nächte lag Wilma Schneider in ihrem Bett. Sie sah die
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