Die Knochenleserin
Blick wanderte zu der Rekonstruktion auf dem Schreibtisch. »Schon wieder ein Kind?«
»Ja. Eve nennt das Mädchen Carrie. Sie will sie unbedingt fertigstellen.«
Er nickte nachdenklich. »Verstehe. Nahrung für die Seele.«
»Wie bitte?«
»Das hält sie in Bewegung. Vielleicht denkt sie ja unbewusst bei jedem Kind, dass es sie einen Schritt näher zu ihrer Bonnie bringt. Wenn sie genügend gute Taten vollbracht hat, wird sie irgendwann damit belohnt, dass sie ihre Tochter findet.«
Ja, jetzt konnte Jane verstehen, warum Eve sich von Montalvo angezogen fühlte. Diese hohen Wangenknochen und die dunklen Augen waren absolut fesselnd, und er strahlte Selbstsicherheit und Vitalität aus. Gutes Aussehen, Charisma und, was noch gefährlicher war, Intelligenz.
»So habe ich es noch nie gesehen«, sagte sie langsam. »Wahrscheinlich ist es viel einfacher. Sie ist ein guter Mensch, der andere von ihrem Kummer befreien will.«
Er nickte. »Da könnten Sie recht haben. Manchmal neige ich dazu, zu viel zu analysieren. Vor allem wenn ich wissen will, wie jemand reagieren wird. Es ist wichtig für mich herauszufinden, wie Eve denkt.« Er hob die Tasse an den Mund. »Vor einem Monat habe ich übrigens eins Ihrer Gemälde gekauft.«
Sie hob die Brauen. »Warum? Sie müssen doch nicht wissen, wie ich denke.«
»Ich fand es faszinierend. Ich habe die Galerie aufgesucht, weil ich neugierig war auf Eves Tochter, und ich war ganz hingerissen.«
»Welches Gemälde?«
»Es ist eins von Quinns Haus am See. Ein sehr heiteres Bild. Ich wollte noch ein zweites Bild erwerben, aber man sagte mir, es sei unverkäuflich. Es war das Porträt eines Mannes. Sie haben ihm den Titel Schuldig gegeben. In diesem Gesicht spiegelten sich Qualen wieder. Schuldig wessen, Jane?«
»Ich weiß nicht.« Sie zuckte die Achseln. »Es gibt ihn nicht. Eines Abends habe ich angefangen, sein Gesicht zu skizzieren. Es hat mich nicht mehr losgelassen, deshalb dachte ich, wenn ich ein Porträt malen würde, hätte es vielleicht eine kathartische Wirkung. Leider hat es nicht funktioniert. Ich male ihn immer noch.«
»Interessant. Vielleicht geht es gar nicht um eine konkrete Person; vielleicht ist es das Gesicht der Schuld.«
»Möglich. Wir alle haben Gründe, uns auf die eine oder andere Weise schuldig zu fühlen.« Sie musterte ihn. »Aber es gibt auch Menschen, die nicht davon gequält werden.«
Er lachte in sich hinein. »Sie reden wohl von mir. Sie haben recht, ich habe mir über die Jahre ein dickes Fell zugelegt. Aber vermutlich wollen Sie nicht meine Vergangenheit ansprechen. Es scheint um etwas Persönliches zu gehen.«
»Sehr persönlich sogar. Ich mag Joe sehr. Eve hat ein Recht darauf zu tun, was sie tun möchte. Ich werde ihr immer den Rücken stärken. Aber kommen Sie ja nicht auf die Idee, ihr Schwierigkeiten zu bereiten.«
Sein Lächeln verschwand. »Das ist das Letzte, was ich möchte. Ich möchte, dass sie glücklich und in Frieden leben kann. Ich bin derjenige, der ihr das geben kann, Jane.«
Sie war drauf und dran, ihm zu glauben. Sie schüttelte den Kopf. »Sie ist mit Joe glücklich.«
»Tatsächlich?« Er trank seinen Kaffee aus und stellte die Tasse auf dem Couchtisch ab. »Es gibt beim Glücklichsein Abstufungen, genauso wie es verschiedene Ausprägungen von Schuld gibt. Aber Sie sagten ja bereits, Eve sollte tun, was sie möchte.«
Und er würde alles unternehmen, um sicherzustellen, dass Eve dieselben Wünsche hätte wie er, dachte Jane bei sich. Manipulativ wie Satan, und dennoch hatte sie das Gefühl, dass er jedes Wort so meinte, wie er es sagte. Was für eine tödliche Kombination.
Er schüttelte den Kopf, während er ihren Gesichtsausdruck musterte. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er sanft. »Ich möchte ihr nur das geben, was sie –«
»Hallo, Montalvo«, sagte Eve, als sie zur Tür hereinkam. »Ich habe eben mit Joe telefoniert. Er kommt gleich herunter.«
»Ach ja, stimmt. Miguel hat mir gesagt, dass er ein anderes Zimmer hat.« Montalvo stand auf. »Sehr klug. Er kann keine Ablenkungen gebrauchen.« Er lächelte. »Hallo, Eve. Ich lerne gerade Ihre Jane kennen. Es kommt mir vor, als hätte man mir den Fehdehandschuh hingeworfen. Sie ist Ihnen sehr ähnlich.«
»Das nehme ich mal als Kompliment.«
Eve war angespannt, aber Jane spürte auch eine merkwürdige Vertrautheit zwischen Eve und Montalvo.
Er kennt mich, hatte Eve gesagt.
Ja, das tat er wirklich, und das konnte sich als die gefährlichste
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