Die Koenigin der Schattenstadt
ob überhaupt ein Mensch so einen Absturz überleben konnte, und bevor er sich diese Frage beantworten konnte, streifte ein Geschoss den Pájaro.
Der Steuerknüppel wurde Kopernikus aus der faltigen Hand gerissen. Der Kolibri geriet ins Trudeln.
Eine zweite Salve tiefster Finsternis wurde von der Galeone, die jetzt nah bei ihnen war, abgeschossen. Jordi sah die Mündungen der Kanonen dampfen, ihre Geschosse bestanden aus reiner Kälte. Er hatte Kanonen wie diese im Inneren der Galeonenstadt gesehen. Sie waren lebendige Wesen. Kreaturen, die den Träumen kranker Schatten entsprungen sein mochten.
»Halt dich fest!«, schrie Kopernikus.
Die Mechanik des Pájaro setzte aus.
Einer der beiden Schwingen schlug unregelmäßig. Der Kolibri bekam Schlagseite. Weitere Schüsse trafen sie und Schatten benetzten die Holzhaut des Kolibris.
Einen Moment später fiel das kleine Fluggefährt wie ein Stein zu Boden.
Buchstaben und Papier
Catalina Soleado lief unruhig im Kreis umher.
»Du kannst einen ganz nervös machen«, sagte Firnis, der an dem Tisch saß und ihr beim Herumlaufen zuschaute. »Du musst mit dem Kopf denken, nicht mit den Füßen.«
Catalina zog ein Gesicht. »Ich denke lieber mit den Füßen.«
»Dann denke ein wenig leiser«, bat Firnis. »Du erschreckst sonst die Buchstaben.«
Sie nickte abwesend und lief weiter durch die Bibliothek. An den Palmen mit den leblosen Kokons vorbei und an den klebrigen Blumenkübeln mit den rankenartigen Geschöpfen. Sie umrundete den ausgetrockneten Brunnen mit der großen gusseisernen Skulptur, nur um wieder zu Firnis und dem Sphinx zurückzukehren.
Schon vor einer halben Stunde hatte sie damit angefangen. Nicht dass es sie wirklich beruhigte, aber es war besser, als auf einem Stuhl zu sitzen und die Wände anzustarren.
Endlich wusste sie, was ihre Bestimmung war – was sie zu tun hatte, um all das Schreckliche abzuwenden, das die Schatten anrichteten. Und gleichzeitig war sie zu dieser schrecklichen Untätigkeit verdammt – einfach nur, weil sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wie zum Teufel sie aus dieser verdammten Schattenstadt herauskommen sollte.
Aber das musste sie. Sie musste so schnell wie möglich einen Weg zurückfinden in ihre Welt. Anderenfalls würde ihr Wissen niemandem dort etwas nützen; nicht denjenigen, die ihr so sehr am Herzen lagen, nicht all den Menschen, die dort oben von den Schatten bedroht wurden, nicht ihr selbst.
Verdammt!
Jordi, halte durch, flüsterte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Bitte! Ich schaffe es schon. Irgendwie wird es mir gelingen, so oder so. Catalina hatte Firnis gelöchert, ob er einen Weg aus der Schattenstadt kannte, doch er hatte keine Antworten gewusst.
Sie hatte überlegt, in die alte Zisterne der Bibliothek zu klettern, aber sie ahnte, dass es im Grunde genommen sinnlos sein würde. Das, was sie brauchte, war eine Quelle des reinen Lichts – wenn der Weg umgekehrt überhaupt so funktionierte, wie sie es sich zurechtlegte. Und reines Licht – das gab es in der Stadt der Schatten ganz bestimmt nicht.
Auch Miércoles hatte keinen Rat gewusst. »Es ist ein Rätsel«, hatte er nur gemurmelt. Wieder einmal.
Catalina warf dem Sphinx einen genervten Blick zu. Er saß neben Firnis auf dem Fußboden und trank aus einer Schale mit Milch – seelenruhig, wie sie fand.
Wütend erklomm sie zum dritten Mal eine steile Wendeltreppe und eilte an den Regalreihen voller kranker Bücher vorbei.
Das Haus der Nadeln machte einen kleinen Hopser, Catalina stolperte. Die Bibliothek hatte sich vor einiger Zeit in Bewegung gesetzt und war nun in einer Seitenstraße unterwegs.
Ungeduldig rappelte sie sich wieder auf und sah zu, wie sich ein paar umherflatternde Buchstaben auf einem der Regale niederließen.
Vorsichtig strich sie an den Buchrücken entlang. Die meisten sahen aus, als habe sie jemand im Regen stehen lassen. Die Deckel waren voll gelbbrauner Flecken und rochen wie etwas, das verdorben ist. Der Boden war überall mit Buchstaben bedeckt, die sich mühsam in Richtung der Bücherwürmer schleppten. Tinte tropfte in kleinen Rinnsalen durch das Gitternetzwerk der Treppe und sammelte sich weiter unten in Pfützen, die so schwarz waren, dass man sich darin spiegeln konnte.
Catalina drückte gegen einen der Buchrücken, nicht mal fest. Er zerbröselte unter ihren Händen, vereinzelte Buchstaben fielen aus ihm heraus.
»Was ist der Grund dafür?«, dachte Catalina laut nach. »Warum sterben die Bücher in diesem
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