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Die Koenigin der Schattenstadt

Die Koenigin der Schattenstadt

Titel: Die Koenigin der Schattenstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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noch lange nicht. Ein raschelndes Wispern erklang von tief aus den Seiten. Und die Buchstaben, die dort lebten, wichen ihr aus, sobald sie die Hand aufs Papier legte. Sie stoben zur Seite und kehrten erst an ihren Platz zurück, als sie die Hand hob und von ihnen abließ. Manche fletschten ihre Zähne und schnappten nach ihr, andere türmten sich zu kleinen Mauern hoch.
    »Es funktioniert nicht.« Miércoles schlug mit dem Schwanz. »Sie sprechen nicht mit dir.«
    Catalina biss die Zähne zusammen. Warum klappte es nicht? Was machte sie falsch? »Vielleicht müssen sie ja nicht mit mir sprechen«, murmelte sie. »Vielleicht verstecken sie auch nur etwas.«
    Firnis nickte. »Das tun Worte oftmals, ja, das tun sie.«
    »Aber wie willst du herausfinden, was sie verbergen?«, fragte Miércoles.
    Sie zögerte und versuchte sich daran zu erinnern, was Márquez ihr beigebracht hatte. »Ab und zu«, erklärte sie, »bei den ganz alten Karten, da gab es versteckte Hinweise, die ein Kartenmacher dort hinterlassen hatte. Man verbarg Geheimnisse, indem man sie einfach überzeichnete. Oft musste man Pergament mit Zitrone beträufeln oder mit einem feuchten Tuch über die Linien wischen, bis sie das Geheimnis preisgaben.«
    Sie befeuchtete den Finger.
    Dann berührte sie die Buchstaben aufs Neue. Noch immer wichen ihr die Buchstaben aus, aber einige erwischte sie. Die Tinte verschmierte, sobald sie mit dem Finger drüberfuhr.
    Catalina rieb weiter, radierte Satz für Satz aus, Buchstabe für Buchstabe, auch wenn es unendlich lange dauerte, denn die Buchstaben wehrten sich mit aller Macht.
    Aber sie gab nicht auf und langsam, ganz langsam, schälte sich etwas unter all den Tintenspuren und aufgeregten Buchstaben hervor.
    »Herrje«, murmelte sie.
    »Mach weiter«, drängelte Miércoles.
    Sie rieb heftiger.
    Wischte Satz um Satz aus. So lange, bis die Zeichnung auf dem Papier fest umrissen war. Die Linien traten hervor und jetzt konnte sie deutlich erkennen, was es war.
    Es sah aus wie ein Türknauf, ein echter, richtiger Türknauf, der zu einer echten, richtigen Tür gehörte.
    Catalina umfasste ihn und öffnete das Buch.
    Es war ganz einfach.
    »Da, schau!« Miércoles war auf den Tisch gesprungen und saß wie eine Statue da.
    Die Buchstaben, die sie eben noch ausradiert hatte, krochen Catalina den Arm hinauf. Es kitzelte ein wenig, wenn sich die Lettern bewegten, aber unangenehm war es nicht unbedingt. Irgendwie sah es so aus wie das, was die Papierfrau getan hatte.
    Immer mehr Buchstaben krabbelten auf ihrer Haut entlang. Sie wollte sie berühren und da merkte sie, dass es Papier war, das sie da anfasste. Sie bekam einen Schreck. Was, wenn sie sich doch irrte? Was, wenn das hier etwas ganz anderes war, ein Zauber, der nichts mit der Welt des Lichts zu tun hatte?
    Catalina dachte an Jordi. Und an den lila-blauen Gedichtband, der erst vor wenigen Tage geboren war und vielleicht nicht viel älter werden würde. Und sie zog ihre Hand nicht zurück.
    Leise hörte sie es in ihrem Kopf wispern, all die schattigen Satzzeichen und Wörter. Geheimnisse flüsterten sie ihr zu, die sie nicht verstand.
    »Pass auf dich auf, Mädchen«, sagte Firnis.
    Miércoles schwieg.
    Und Catalina beobachtete die Buchstaben, die sie überrannten. Sie sah ihre Hände, Arme, Schultern zu Papier werden. Die gleiche schmutzig gelbe Farbe wie die Seiten des Buches hatte es.
    Ich löse mich auf, dachte sie und für einen Moment überwältigte sie die Panik.
    »Das geht vorüber«, wisperten neue Worte ihr zu. Sie umkreisten sie wie Vögel, die sie geleiten wollten, an einen Ort, den nur sie kannten und niemand sonst.
    Jordi, hilf mir!
    Und dann versank sie in dem Buch, und als sie zwischen all den Buchstaben und Worten war, da sah sie die Welt aus ganz anderen Augen, aus fremden Augen.
    Nein, nicht eine Welt war es, sondern viele. Es war verwirrend, all die fremden Orte zu sehen. Es gab kleine Dörfer und gewaltige Festungsanlagen an der Küste und erst dann fiel ihr auf, dass sie die meisten dieser Landschaften erblickte, während sie an Deck einer Galeone stand. Es gab noch andere Orte, andere Plätze, andere Länder. Aber es waren so viele, dass ihr ganz schwindelig wurde.
    Catalina bewegte sich zwischen all diesen Sichtweisen hin und her und plötzlich wusste sie, dass sie Kassandra Karfax geworden war. Nun ja, nicht Kassandra Karfax persönlich. Nicht das Original.
    Aber sie konnte durch all ihre Kopien hindurchschauen. Sie sah, was auch die Papierfrauen

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