Die Koenigin der Schattenstadt
fegten sie durch die Luft, und als sie unten bei der Düne neben dem Pájaro ankamen, da flogen Sandkörner hoch und alles, was dort war, wurde von einer Staubschicht bedeckt.
Die Rabenfedern hielten ihre Position.
Dann stoben sie auseinander, als würden sie verweht. Aus ihrer Mitte schälten sich zwei Gestalten heraus. Die eine war ein Harlekin, die andere eine Frau aus Papier.
Geschwungene Zeilen, schwarz und lebendig, waren der Papierfrau ins Gesicht geschrieben, fortwährend bewegten sich die Buchstaben, und wenn die Sonne sie im richtigen Winkel traf, dann sah es so aus, als entstünden Gemälde von atemberaubender Einzigartigkeit. Unermessliche Wünsche lagen verborgen in diesem Antlitz, das wie Fieber in der Gluthitze war.
Der Harlekin trat vor. Er sah genauso aus wie die Gestalten, denen Jordi in Barcelona begegnet war. Groß, mit einem breiten Grinsen in dem weißen Gesicht, die Augen leere Schlitze.
Er zischte.
Schlangenhaft.
Und die Frau, deren Gesicht wie Papier war, lächelte ein gezeichnetes Lächeln, das boshafter nicht hätte sein können.
Jordi, der noch immer neben Kopernikus kniete, dachte nicht daran, von der Seite seines Freundes zu weichen. Er spürte, wie der alte Mann zitterte. Er hatte Angst vor dieser Frau.
»Wer ist das?«, flüsterte Jordi, wenngleich er es sich denken konnte.
Kopernikus, der seine Furcht durchaus zu verbergen wusste, funkelte die Papierfrau zornig an. In seinen Augen standen Tränen aus Schmerz und Wut und Hilflosigkeit. »Du?«, knurrte er sie an. »Nicht einmal mir zeigst du dich wahrhaftig.«
»Wer ist sie?«, fragte Jordi noch einmal. Die Frau erinnerte ihn an die Schakalwesen, die ihn in Lisboa verfolgt hatten.
»Das«, keuchte Kopernikus, »ist Kassandra Karfax.« Er musste lachen. Es klang bitter.
»Du hast fortgegeben, was La Sombría dir geschenkt hat«, sagte die Papierfrau nur und in ihre gemalten Augen aus Hinterlist und Farbenpracht hatte niemand Mitleid gezeichnet.
»Das soll dich nicht kümmern«, fauchte er sie an und fügte abschätzig hinzu: »Mutter.«
»Du siehst verwirrt aus, Karim«, sagte die Papierfrau. »Und steinalt.«
Buchstaben bewegten sich in ihrem Gesicht wie windige Würmer, die sich in die Erde wühlen.
»Was wollt Ihr von uns?« Jordi musste sich zwingen, damit seine Stimme ruhig klang.
Sie ging auf ihren Sohn zu. »Von ihm«, sagte sie, »will ich nichts.« Sie riss sich ein Stück des vergilbten Papiers aus dem Arm und hinterließ eine Lücke und unter dieser Lücke war nichts, nur Leere. »Von dir, Junge, will ich alles.«
»Du darfst ihr nicht glauben«, sagte Kopernikus, »egal, was sie sagt. Sie will nur das Mädchen, nicht dich!«
»Sei still!«, fauchte sie ihn an.
»Denk an das, was du vorhast. Zögere nie!«
Sie nahm das raschelnde Papier und schlug es Kopernikus, der sich kaum bewegen konnte, mitten ins Gesicht.
»Was . . .«, keuchte Jordi.
Und Kopernikus begann zu stöhnen.
Die Buchstaben, die auf dem vergilbten Pergament gelebt hatten, verließen ihr altes Zuhause und krochen dem letzten Arxiduc von Gibraltar in die fahle Haut hinein. Wie Maden bewegten sie sich dort entlang, Jordi konnte sehen, wie sich die Buchstaben von innen gegen die Haut drückten. Sie verbanden sich zu Wörtern, die eine Bedeutung hatten, einen Sinn, der so schrecklich war, dass Jordi lieber nichts davon erfahren wollte.
»Jordi!«, war das letzte Wort, das Kopernikus krächzte. Dann erbrach er Buchstaben in den Sand, die zu Tinte zerliefen. Er starrte den Lichterjungen an. In seinem uralten Blick schwammen nun Buchstaben mit spitzen, zackigen Körpern.
Das Pergament, das ihm wie ein feuchtes Tuch das Gesicht bedeckte – oder nein – zu seinem Gesicht geworden war, zeichnete das Antlitz eines jungen Mannes nach, der nie richtig zu lächeln gelernt hatte. Dann wurde es zu dem Gesicht, das Jordi gekannt hatte. Kopernikus, wie er vor der Sagrada Família die Treppenstufen hinuntergestolpert war.
Die Augen zerflossen, als regne Farbe auf eine Skizze, sie wurden zu zwei dunklen Punkten und schließlich zu einer albtraumhaften Kontur. Die Haut wurde zu Papier, über das die wilden Buchstaben krochen, und Jordi erkannte, dass Kopernikus von der Magie, die seine Mutter dem Papier gegeben hatte, langsam aufgefressen wurde.
Er löste sich auf, Stück für Stück, bis nur noch aufgeweichtes Papier übrig war und nichts mehr sonst.
Jordi streckte die Hand aus, legte sie dorthin, wo eben noch das Gesicht seines Freundes gewesen
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