Die Königin der Weißen Rose
Brüder habe. Seit meiner Kindheit habe ich mit Dolchen und Schwertern gespielt. Ich schneide mir die Kehle durch, bevor Ihr bei mir seid.»
«Das wagt Ihr nicht. Ihr seid eine Frau und habt nicht mehr Mut als jede andere Frau.»
«Stellt mich auf die Probe, na los. Ihr wisst nicht, wie viel Mut ich habe. Womöglich bedauert Ihr, was dann geschieht.»
Er zögert eine Sekunde, auf seinem Gesicht spiegelt sich eine gefährliche Mischung aus Zorn und Lust, und dann reißt er sich zusammen, hebt in einer Geste der Kapitulation die Hände und tritt zurück. «Ihr habt gewonnen», sagt er. «Ihr habt gewonnen, Madam. Und Ihr könnt den Dolch behalten, als Siegesbeute. Hier …» Er schnallt dasFutteral ab und wirft es auf den Boden. «Nehmt auch das verdammte Futteral dazu, warum nicht?»
Die kostbaren Steine und das emaillierte Gold funkeln in der Dämmerung. Ohne den Blick vom König zu wenden, knie ich nieder und hebe es auf.
«Ich begleite Euch nach Hause», sagt er. «Ich sorge dafür, dass Ihr sicher nach Hause kommt.»
Ich schüttele den Kopf. «Nein. Man darf mich nicht mit Euch sehen. Niemand darf wissen, dass wir uns heimlich getroffen haben. Ich würde Schande über mich bringen.»
Einen Augenblick habe ich das Gefühl, er will mir widersprechen, doch dann neigt er zustimmend den Kopf. «Dann geht voraus», sagt er. «Und ich folge Euch wie ein Page, wie Euer Diener, bis ich sehe, dass Ihr sicher das Tor erreicht. Dann könnt Ihr in dem Triumph schwelgen, dass ich Euch folge wie ein Hund. Da Ihr mich wie einen Narren behandelt, werde ich Euch dienen wie ein Narr, und Ihr könnt Euch daran ergötzen.»
Es hat keinen Sinn, gegen seinen Zorn anzureden, und so nicke ich und wende mich um, um vorauszugehen, wie er es mir vorgeschlagen hat. Wir gehen schweigend. Ich kann hinter mir das Rascheln seines Umhangs hören. Als wir den Waldrand erreichen, wo man uns vom Haus aus sehen könnte, bleibe ich stehen und drehe mich zu ihm um. «Von hier an bin ich sicher», erkläre ich. «Ich muss Euch um Verzeihung bitten für meine Torheit.»
«Ich muss Euch um Verzeihung bitten für meine Grobheit», erwidert er steif. «Ich bin vielleicht zu sehr daran gewöhnt, meinen Willen durchzusetzen. Aber ich muss sagen, ich bin noch nie mit vorgehaltenem Dolch abgewiesen worden. Und obendrein noch mit meinem eigenen.»
Ich reiche ihm den Dolch mit dem Heft voran. «Möchtet Ihr ihn wiederhaben, Euer Gnaden?»
Er schüttelt den Kopf. «Behaltet ihn als Erinnerung an mich. Es wird mein einziges Geschenk an Euch sein. Ein Abschiedsgeschenk.»
«Werde ich Euch denn nicht wiedersehen?»
«Niemals», sagt er schlicht, verbeugt sich leicht und geht davon.
«Euer Gnaden!», rufe ich, und er bleibt stehen und dreht sich um.
«Ich möchte nicht im Bösen von Euch scheiden», sage ich zaghaft. «Ich hoffe, Ihr könnt mir verzeihen.»
«Ihr habt mich zum Narren gehalten», sagt er mit eisiger Stimme. «Ihr könnt Euch gratulieren: Ihr seid die erste Frau, der das gelungen ist. Aber Ihr werdet auch die letzte sein. Und Ihr werdet mich nie wieder zum Narren halten.»
Ich sinke in einen tiefen Knicks und höre, wie er sich abwendet und sein Umhang über die Sträucher am Pfad streift. Ich warte, bis seine Schritte verklungen sind, dann erhebe ich mich, um nach Hause zu gehen.
Ein Teil von mir möchte ins Haus laufen, sich aufs Bett werfen und in den Schlaf weinen – schließlich bin ich eine junge Frau.
Doch das tue ich nicht. Ich bin nicht wie meine Schwestern, die schnell lachen und schnell weinen. Ich bin vernünftiger als ein dummes Mädchen. Ich bin die Tochter einer Wassergöttin. In meinen Adern fließt Wasser, und meine Abstammung verleiht mir Macht. Ich lasse Dinge geschehen, und noch gebe ich mich nicht geschlagen, nicht von einem Jungen mit einer frisch erworbenen Krone. Kein Mann soll je von mir gehen in der Sicherheit, dass er nicht zu mir zurückkehrt.
Und so wende ich mich nicht gleich nach Hause. Ich nehme den Pfad zu der kleinen Brücke über den Fluss, dahin, wo meine Mutter einen Faden um die Esche geschlungenhat, und ich ziehe ihn ein weiteres Stück heraus und knote ihn fest, und erst dann gehe ich nach Hause, nachdenklich im fahlen Mondschein.
Dann warte ich. Vierundzwanzig Tage lang gehe ich jeden Abend hinunter zum Fluss und hole den Faden einen Fuß ein, wie eine geduldige Fischersfrau. Eines Abends spüre ich, wie der Faden sich spannt, als der Gegenstand am anderen Ende – was auch immer es ist
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