Die Königin der Weißen Rose
Weinen, weil ich ihn in die Welt schicken musste, als er noch so klein war. Doch er ist sicher, und ich sollte froh darüber sein. Er ist das einzige meiner Kinder, das weit weg ist von der Gefahr, die es bedeutet, dieser Familie anzugehören, in diesem Land zu leben, diese Kriege mitzuerleben, die bald wieder aufflammen werden. Der Junge, der jetzt Peter genannt wird, wird in aller Ruhe zur Schule gehen, Sprachen und Musik lernen und abwarten. Wenn wir siegen, wird er als Prinz von königlichem Geblüt nach Hause kommen, wenn wir verlieren, wird er die Waffe sein, von der sie nichts wissen, der Junge im Versteck, der königliche Prinz, die Nemesis ihres Ehrgeizes und meine Rache. Er und die Seinen werden jeden König, der nach uns kommt, verfolgen wie einen Geist.
«Mutter Gottes, pass auf ihn auf», flüstere ich mit gesenktem Kopf, die Lider fest über meinen Tränen geschlossen. «Melusine, wache über unseren Sohn.»
SEPTEMBER 1483
Jeden Tag erreichen mich Nachrichten von der Bewaffnung und den Vorbereitungen unserer Leute, nicht nur aus den Grafschaften, in denen meine Brüder wirken, sondern aus dem ganzen Land. Als sich langsam die Nachricht verbreitet, dass Richard sich der Krone bemächtigt hat, fragen sich immer mehr Leute, kleine Landjunker und Markthändler und diejenigen, die über ihnen stehen, die Köpfe der Gilden und die Grundbesitzer, die wohlhabenden Landedelleute: Warum nimmt ein jüngerer Bruder dem Sohn seines verstorbenen Bruders das Erbe ab? Wie tritt ein Mann vor das Angesicht seines Schöpfers, wenn so etwas geschehen kann, unangefochten? Warum sollte ein Mann sein ganzes Leben danach streben, seine Familie zu fördern, wenn sein kleiner Bruder, der Kümmerling des Wurfs, in der Minute, in der er Schwäche zeigt, einfach in seine Fußstapfen tritt?
In all den Orten, die wir besucht haben, gibt es viele, die sich an Edward als an einen gutaussehenden Mann und an mich als an seine schöne Frau erinnern, viele, die unsere hübschen Töchter und unsere kräftigen blonden Söhne noch vor Augen haben. Viele, die uns die Goldene Familie genannt haben, die England Frieden und eine Schar Thronerben gebracht hat. Und diese Leute sagen,es sei ein Skandal, dass wir nicht in unseren Palästen leben und unser Junge nicht auf dem Thron sitzt.
Ich schreibe meinem Sohn, dem kleinen König Edward, und ermuntere ihn, nicht den Mut zu verlieren, doch meine Briefe kommen ungeöffnet zurück. Unberührt, die Siegel ungebrochen. Ich werde nicht einmal ausspioniert. Es ist, als leugneten sie, dass er überhaupt in den königlichen Gemächern im Tower sei. Ich warte unruhig auf den Ausbruch des Krieges, der ihn befreien wird, und wünsche mir, wir könnten ihn beschleunigen und müssten nicht auf Richards langsames, prahlerisches Vorrücken durch Oxfordshire und Gloucestershire nach Pontefract und York warten. In York krönt er seinen Sohn, den dünnen, kränklichen Jungen, zum Prince of Wales. Er verleiht ihm Edwards Titel, als sei mein Sohn tot. Ich verbringe den Tag auf den Knien und bete zu Gott, dass er mir für diese Beleidigung Rache gewährt. Ich traue mich nicht zu denken, dass es Schlimmeres sein könnte als eine Beleidigung. Der Gedanke, dass er den Titel vergeben könnte, weil er frei ist, weil mein Sohn tot ist, ist mir unerträglich.
Elizabeth kommt vor dem Abendessen zu mir und hilft mir auf die Füße. «Weißt du, was dein Onkel heute getan hat?», frage ich sie.
Sie wendet das Gesicht ab. «Ja», sagt sie ruhig. «Der Stadtschreier hat es auf dem Platz verkündet. Ich konnte es von der Tür aus hören.»
«Du hast die Tür aber doch nicht geöffnet?», frage ich nervös.
Sie seufzt. «Nein. Ich öffne die Tür nie.»
«Herzog Richard hat die Krone deines Vaters gestohlen, und nun hat er seinen Sohn in die Gewänder deines Bruders gesteckt. Dafür wird er sterben», prophezeie ich.
«Haben nicht schon genug Leute den Tod gefunden?»
Ich nehme sie bei der Hand und ziehe sie an mich, sodass sie mich ansehen muss. «Wir sprechen hier vom Thron von England, dem Geburtsrecht deines Bruders.»
«Wir sprechen über den Tod einer Familie», sagt sie rundweg. «Du hast auch Töchter, weißt du. Hast du mal an unser Geburtsrecht gedacht? Wir sind hier eingepfercht wie die Ratten, schon den ganzen Sommer, während du den ganzen Tag um Rache betest. Dein geliebter Sohn ist in Haft oder tot – du weißt nicht einmal, welches von beidem. Deinen anderen Sohn hast du in die Dunkelheit
Weitere Kostenlose Bücher