Die Koenigin der Wolle
vernachlässigen. Was bin ich Ihnen schuldig?” Er griff nach der Bürste.
„Nichts. Sie sind mein Gast.”
„Vielen Dank. Ich werde mich zum Frühstück revanchieren.”
Sie aßen schweigend ihre Sandwiches und spülten sie anschließend mit Mineralwasser hinunter.
Das Nichtstun und die entspannende Gesellschaft der jungen Miss Fielding machten Alexander Sterling schläfrig. Kurz vor 22 Uhr schnappte er sich seine nagelneue Zahnbürste, kramte nach der Zahnpasta und besuchte das John-Wayne-Männchen. Direkt nach seiner Rückkehr übernahm Rosalind die Zahnpastatube und verschwand für ein paar Minuten in dieselbe Richtung.
„Legen Sie sich ruhig aufs Ohr, Mr Sterling. Ich bin Nachtmensch und passe auf Ihre Sachen auf, bis Sie wieder auf dem Posten sind”, überließ sie ihm gutgelaunt die Nachtruhe.
Alexander fragte sich, ob ihre penetrant gute Stimmung auf Drogen zurückzuführen war, als sie ihm ein flaches Kissen aus ihrer Reisetasche reichte.
„Bitte und gute Nacht.”
„Danke. Gute Nacht.” Er legte seinen Kopf auf ihr Kissen und deckte sich mit seiner Jacke notdürftig zu. Hmm, Lavendelduft. Miss Fielding wusste, wie man sich angenehm zur Ruhe bettete. Gab es eigentlich Drogen, die gute Laune verursachten und keine Nebenwirkungen hatten? Über diesem Gedanken und mit dem Geruch der Provence in der Nase schlief er ein.
Rose betrachtete den schlafenden Mann aufmerksam. Ein komischer Kauz war das. Sie konnte ganz genau spüren, dass er einen großartigen Humor hatte. Er traute sich nur nicht, diesen Humor auch zu zeigen. Aber er sah gut aus. Gott, sah dieser Mann attraktiv aus! Seine hellbraunen Augen hatten sie beeindruckt. Sie waren ungewöhnlich klar und erweckten den Eindruck, man könne durch sie direkt in Alexander Sterlings Innerstes blicken, wenn man sich genügend Zeit nahm. Seine sanft geschwungenen Lippen konnte sie nicht länger anblicken, ohne dabei schmutzige Gedanken zu bekommen. Wenn man seine Stimme kannte, wusste man, dass sie perfekt zu diesen unglaublichen Lippen passte. Aber es brachte nichts, sich am Anblick des Starautors festzusaugen. Er würde sich nie und nimmer für eine chaotische Person wie sie erwärmen können, soviel stand fest. Sie seufzte und widmete sich wieder ihrer Socke, die sie innerhalb der nächsten zwei Stunden zur Vollendung brachte. Danach verlor selbst Rosalind Fielding die Lust, mit dem zweiten Socken zu beginnen. Stattdessen lauschte sie dem gleichmäßigen Atem des erstaunlichen Mr Sterling und beobachtete, wie sich immer mehr Gestrandete auf Jacken, Taschen oder Wolldecken zum Schlafen legten.
Gegen vier Uhr morgens erwachte Alexander wieder. Er erwartete, sich wie gerädert zu fühlen und wurde von seinem eigenen Körper überrascht. Sein Rücken fühlte sich nicht schlimmer an als nach einer gewöhnlichen Nacht in einem anständigen Bett. Er reichte Miss Fielding ihr Kissen und sah ihr dabei zu, wie sie sich neben ihm zusammenrollte. In den folgenden Stunden hatte er ausreichend Zeit, sie anzuschauen. Sie war das, was man als petite bezeichnete - zart und feingliedrig. Alles an ihr erinnerte Sterling an die irischen Märchen, mit denen er aufgewachsen war. Ihr fröhliches Grinsen hatte etwas von den Kobolden und Elfen seiner Kindheit. Und ihr Haar... Ihr Kopf sah aus, als stünde er in Flammen. Die dichten kupferroten Korkenzieherlocken wippten bei jedem Schritt, den sie ging. Er haderte eine Weile mit sich und seiner Neugier, dann streckte er eine Hand aus, berührte eine besonders wild gelockte Strähne und wand sich das Haar um den Zeigefinger. Es fühlte sich kräftig, aber erstaunlicherweise nicht trocken oder störrisch an. Wie sie wohl mit nassen Haaren aussah? In einem Bikini. An einem Sommertag... Sterling rief sich zur Ordnung und zog seinen Finger weg. Die Strähne schnappte zurück wie eins dieser gekringelten Telefonkabel.
Während er weiter dasaß und den Anblick der schlafenden Königin der Wolle in sich aufsog, begann in seinem Kopf ein Prozess, der immer dann einsetzte, wenn ihn etwas sehr beeindruckt hatte. Die sorgfältig ausgearbeiteten Ideen und Pläne für das Buch, an dem er in Frankreich gearbeitet hatte, fielen auseinander, lösten sich auf und machten neuen Sätzen und Szenen platz. Plötzlich wurde aus der geradlinigen Detektivstory eine raffiniertere Geschichte aus Verführung, Verrat und Leidenschaft, in deren Mittelpunkt neben seinem berühmten Ermittler Basil St. John eine mysteriöse und betörende
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