Die Königliche (German Edition)
sah, dass er sie mit leiderfüllten Augen staunend ansah.
»Das war der Schal Ihrer Mutter, Königin«, sagte er. Dann begannen ihm Tränen übers Gesicht zu laufen. Irgendetwas in seinem Blick schien zu brechen, aber es war etwas Lebendiges darin – keine Leere, sondern Leben, das gegen Schmerz ankämpfte. »Verzeihen Sie mir, Königin«, sagte er und weinte jetzt heftiger. »Ich weiß seit dem Prozess vor zwei Wochen, dass Runnemood in etwas Schreckliches verwickelt ist. Er war es, der den jungen Monsea-Lienid angeschwärzt hat. Ich bekam zufällig mit, wie wütend er war, nachdem es nicht geklappt hatte, und zwang ihn, mir die Wahrheit zu sagen. Ich habe versucht, allein etwas dagegen zu unternehmen. Wir sind schließlich seit fünfzig Jahren befreundet. Ich dachte, wenn ich versuche zu verstehen, warum er so etwas tut, könnte ich ihn zur Vernunft bringen.«
»Sie haben es vor mir geheim gehalten?«, rief Bitterblue. »Sie wussten, was er getan hat, und haben es geheim gehalten?«
»Ich wollte Ihnen die Dinge immer so einfach wie möglich machen, Königin«, sagte er resigniert und wischte sich die Tränen ab. »Ich wollte Sie vor weiterem Schmerz bewahren.«
Viel mehr konnte Thiel ihr nicht sagen.
»Aber warum hat er es getan, Thiel? Was wollte er damit erreichen? Hat er für jemanden gearbeitet? Hat er vielleicht mit Danzhol zusammengearbeitet?«
»Ich weiß es nicht, Königin. Ich konnte ihn nicht dazu bringen, mir irgendetwas davon zu sagen. Ich konnte keine Logik dahinter erkennen.«
»Ich kann daran schon etwas Logisches erkennen«, sagte sie grimmig. »Er hatte ein logisches Verständnis dafür, dass er in die Gefängnisse gehen musste, um die Unschuldigen und alle die zu erstechen, die er fürs Lügen oder Töten bezahlt hatte. Erst recht, nachdem ich angeordnet hatte, dass alle Verfahren wiederaufgenommen werden sollten. Dann hat er ein Feuer gelegt, um seine Tat zu vertuschen. Er hat hinter sich aufgeräumt, stimmt’s? Ich frage mich, ob er auch für den Angriff auf mich verantwortlich war, der den Kratzer auf meiner Stirn hinterlassen hat. Und wusste er, wer ich war?«
»Königin«, sagte Thiel beunruhigt, »Sie sprechen da von einer Menge Dinge, von denen ich nichts weiß und die ich erschüttert zur Kenntnis nehme. Sie haben uns nie gesagt, dass sie schon mal angegriffen wurden. Und Runnemood hat nie davon gesprochen, dass er Leute dafür bezahlt, andere Leute umzubringen.«
»Bis heute Nacht«, sagte Bitterblue, »als er Ihnen gesagt hat, er hätte Leute damit beauftragt, mich zu töten.«
»Bis heute Nacht«, flüsterte Thiel. »Er hat mir gesagt, Sie hätten sich mit den falschen Leuten angefreundet, Königin. Bitten Sie mich nicht, Ihnen das zu erklären, denn ich kann nichts anderes denken, als dass er wahnsinnig ist.«
»Wahnsinn ist so eine bequeme Erklärung«, sagte Bitterblue bissig und erhob sich wieder. »Wo ist er, Thiel?«
»Ich weiß es wirklich nicht, Königin«, sagte Thiel, der sich ebenfalls anschickte aufzustehen. »Nachdem ich ihn in dem Gang zurückgelassen hatte, habe ich ihn nicht wiedergesehen.«
»Setzen Sie sich«, fuhr Bitterblue ihn an, die größer sein wollte als er, auf ihn hinuntersehen wollte. Er setzte sich umgehend. »Warum haben Sie niemanden hinter ihm hergeschickt? Sie haben ihn einfach gehen lassen!«
»Ich habe an Sie gedacht, Königin«, rief er. »Nicht an ihn!«
»Sie haben ihn gehen lassen!«, sagte sie erneut frustriert.
»Ich werde herausfinden, wo er ist, Königin. Ich werde etwas über all diese Dinge, von denen Sie gesprochen haben, herausfinden, über all diese Verbrechen, die Sie ihm zur Last legen.«
»Nein«, sagte sie. »Das wird jemand anders für mich herausfinden. Sie stehen nicht länger in meinen Diensten, Thiel.«
»Was?«, rief er. »Königin, bitte. Das können Sie doch nicht machen!«
»Nein? Wirklich nicht? Ist Ihnen klar, was Sie getan haben? Wie kann ich Ihnen vertrauen, wenn Sie mir die Gräueltaten meiner eigenen Ratgeber verheimlichen? Ich versuche eine Königin zu sein, Thiel. Eine Königin, kein Kind, das man vor der Wahrheit schützen muss!« Ihre raue Stimme drang mit Mühe aus ihrem wunden Hals. Er hatte sie mit dieser Sache mehr verletzt, als sie es bei einem steifen, emotionslosen alten Mann für möglich gehalten hatte. »Sie haben mich belogen«, sagte sie. »Sie haben mich in dem Glauben gelassen, dass ich auf Ihre Hilfe zählen kann, um eine gerechte Königin zu werden.«
»Sie sind eine gerechte
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