Die Königliche (German Edition)
vorbeizugehen.
»Haben Sie Familie, Darby?«, fragte sie ihren gelb- und grünäugigen Ratgeber, als er das nächste Mal die Treppe heraufgestürmt kam.
»Ich hatte mal Familie«, antwortete er und rümpfte angewidert die Nase.
»Sie …« Bitterblue zögerte. »Sie mochten sie nicht, Darby?«
»Es ist eher so, dass ich lange nicht an sie gedacht habe, Königin.«
Sie war versucht, Darby zu fragen, woran er denn sonst so dachte, während er wie ein verrückter Apparat zum Erledigen von Schreibarbeit herumrannte. »Ich gebe zu, dass ich überrascht bin, auch Sie heute bei der Arbeit zu sehen, Darby.«
Darby erwiderte ihren Blick und hielt ihm stand, was sie erschreckte, weil sie sich nicht erinnern konnte, dass er das jemals getan hatte. Dann bemerkte sie, wie furchtbar er aussah mit seinen blutunterlaufenen und riesigen Augen, als würde er sich zwingen, sie offen zu halten. Seine Gesichtsmuskeln zuckten, was ihr bisher noch nie aufgefallen war. »Thiel hat mir gedroht«, sagte er. Dann reichte er ihr ein Blatt Papier und eine zusammengefaltete Nachricht, schnappte sich ihren Ausgangsstapel und blätterte ihn mit einer Miene durch, als wollte er jedes Stück Papier, das nicht ordentlich auf dem Haufen lag, bestrafen. Bitterblue stellte sich vor, wie er mit einem Brieföffner Löcher in die Seiten bohrte und sie dann ganz nah ans Feuer hielt, während sie schrien.
»Sie sind ein komischer Vogel, Darby«, sagte sie laut.
»Hmpf«, entgegnete Darby und ließ sie allein. Ohne Thiel in ihrem Schreibzimmer zu sein gab Bitterblue das seltsame Gefühl, sich in einem Schwebezustand zu befinden, als wartete sie darauf, dass der Arbeitstag begänne. Darauf, dass Thiel von irgendeinem Botengang zurückkehrte und ihr Gesellschaft leistete. Sie war unfassbar wütend auf ihn, weil er etwas getan hatte, wodurch sie gezwungen war, ihn wegzuschicken.
Das Blatt Papier, das Darby ihr gebracht hatte, listete die Ergebnisse der letzten Untersuchung zum Thema Lese- und Schreibfähigkeit auf. Sowohl im Schloss als auch in der Stadt lagen die Werte um die achtzig Prozent. Natürlich gab es nicht den geringsten Grund zu der Annahme, dass die Werte stimmten.
Die Nachricht war in Bos großer, sorgfältiger Handschrift mit Grafit verfasst. Darin wurde ihr kurz mitgeteilt, dass Teddy und Saf herbestellt worden waren und sie um zwölf Uhr mittags in ihrer Bibliotheksnische treffen würden.
Bitterblue trat an ein Fenster, das nach Osten zeigte, plötzlich besorgt, wie Teddy es hierherschaffen sollte. Sie lehnte die Stirn ans Glas und atmete gegen den Schmerz und den Schwindel an. Der Himmel war stahlfarben, ein Spätherbsttag, obwohl es erst Oktober war. Die Brücken wirkten wie Luftspiegelungen, prächtig reckten sie sich über den Fluss. Bitterblue blinzelte und verstand dann, was mit der Luft los war, die die Farbe zu ändern und sich zu bewegen schien. Schneeflocken. Nicht viele, nur ein paar vereinzelte, die ersten dieses Herbstes.
Als sie sich später auf den Weg zur Bibliothek machte, blieb sie in den unteren Schreibzimmern stehen, um den Blick über all die Schreiber schweifen zu lassen, die hier täglich arbeiteten. Sie nahm an, dass es immer so zwischen fünfunddreißig und vierzig waren, je nach … na ja, eigentlich wusste sie nicht, wovon es abhing. Wo gingen ihre Schreiber hin, wenn sie nicht hier waren? Liefen sie durch das Schloss, um … irgendetwas zu überprüfen? Ein Schloss war sicher randvoll mit Dingen, die man überprüfen musste, oder?
Bitterblue nahm sich in Gedanken vor, Madlen zu fragen, ob die Schmerzmittel, die sie nahm, ihren Verstand trübten oder ob sie wirklich so dumm war. Ein etwa dreißigjähriger Schreiber namens Froggatt mit wippenden dunklen Haaren stand über einen Tisch in der Nähe gebeugt. Er richtete sich auf und fragte sie, ob sie etwas benötigte.
»Nein, danke, Froggatt.«
»Wir sind alle überaus erleichtert, dass Sie den Angriff überlebt haben, Königin«, sagte Froggatt.
Sie blickte ihm überrascht ins Gesicht und musterte dann die anderen Gesichter im Raum. Sie waren natürlich alle aufgestanden, als sie eingetreten war, und erwiderten jetzt starr ihren Blick, während sie darauf warteten, dass die Königin wieder ging, damit sie weiterarbeiten konnten. Waren sie erleichtert? Wirklich? Sie kannte ihre Namen, wusste aber nichts über ihr Leben, ihren Charakter oder ihre Geschichte, abgesehen davon, dass sie alle je nach Alter bereits unterschiedlich lange in der Verwaltung ihres
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