Die Königliche (German Edition)
»Ihr eigener Arm sieht an der Stelle, wo er gebrochen war, wahrscheinlich so ähnlich aus.«
Bitterblue wusste, dass Madlen Recht hatte: Dinge zu berühren hatte wirklich etwas Machtvolles an sich. Als sie diesen einst gebrochenen Knochen in der Hand hielt, fühlte sie den Schmerz, den sein Besitzer gespürt haben musste, als er brach. Sie fühlte die Traurigkeit eines Lebens, das zu früh geendet hatte, und eines Leichnams, der weggeworfen worden war, als wäre er nichts wert; sie fühlte ihren eigenen Tod, der eines Tages stattfinden würde. Auch das hatte eine tiefe Traurigkeit an sich. Bitterblue war nicht versöhnt mit dem Gedanken an den Tod.
Als sie sich in der Backstube über den Brotteig beugte, ihn knetete und zu etwas Elastischem formte, wurde sie sich über etwas klar: Genau wie Todd fand auch Bitterblue Gefallen an schwierigen, unmöglichen, langwierigen, verzwickten Aufgaben. Sie würde einen Weg finden, Königin zu sein, einen langsamen, verzwickten. Sie könnte verändern, was es bedeutete, Königin zu sein, und das würde auch das Königreich verändern.
Und dann, eines Tages Anfang Dezember, als sie ihre müden Arme an ihre täglichen Grenzen brachte, blickte sie vom Backtisch auf. Vor ihr stand Todd. Sie brauchte nicht zu fragen. Der strahlende Ausdruck in seinem Gesicht sagte alles.
In der Bibliothek reichte Todd ihr ein Stück Papier.
»Das Schlüsselwort ist ozalieg «, sagte Bitterblue, der die Aussprache schwerfiel.
»Ja, Königin.«
»Was bedeutet das Wort?«
»Es bedeutet Monster oder Bestie. Untier, Ungeheuer.«
»Wie er«, flüsterte Bitterblue.
»Ja, Königin. Wie er.«
»Die erste Zeile ist das normale Alphabet«, sagte Bitterblue. »Die sechs folgenden Alphabete fangen mit den sechs Buchstaben an, aus denen das Wort ozalieg besteht.«
»Ja.«
»Um den ersten Buchstaben des ersten Worts in einem Absatz zu entschlüsseln, benutzen wir Alphabet Nummer eins. Für den zweiten Buchstaben Alphabet Nummer zwei, und so weiter. Beim siebten Buchstaben kehren wir wieder zu Alphabet Nummer eins zurück.«
»Ja, Königin. Sie haben es genau verstanden.«
»Ist das nicht ziemlich kompliziert für ein Tagebuch, Todd? Ich verwende eine ähnliche Technik für meine Briefe an König Ror, aber meine Briefe sind kurz und ich schreibe vielleicht einen oder zwei im Monat.«
»Es wird nicht allzu schwer gewesen sein, es aufzuschreiben, Königin, aber eine Katastrophe, es zu lesen. Es kommt mir schon sehr übertrieben vor, vor allem, da vermutlich niemand sonst Dellianisch sprach.«
»Er hat alles übertrieben.«
»Hier, nehmen wir den ersten Satz dieses Buches«, sagte Todd, zog das nächstgelegene Buch heran und schrieb die erste Zeile ab:
»Entschlüsselt heißt es …«
Sowohl Todd als auch Bitterblue kritzelten auf Todds Löschblatt. Dann verglichen sie ihre Ergebnisse:
»Sind das echte Wörter?«, fragte Bitterblue.
»Ya wienßa kala afroßaschien ong cho neyz ya hanteyleyn dahß cho nieteyt hot« , sagte Todd laut. »Ja, Königin. Es bedeutet …« Er kräuselte die Lippen und überlegte. »›Die Wintergala rückt näher und wir haben nicht genug Kerzen.‹ Ich musste ein paar Vermutungen über Verbkonjugation anstellen, Königin, und die Satzstellung unterscheidet sich von unserer, aber ich glaube, so stimmt es.«
Bitterblue berührte ihre entschlüsselten Kritzeleien und flüsterte die seltsamen dellianischen Wörter. An einigen Stellen klangen sie ein bisschen wie ihre eigene Sprache, aber nicht ganz: ya wienßa kala , die Wintergala. Sie fühlten sich an wie Bläschen in ihrem Mund: schöne, gehauchte Bläschen. »Jetzt, wo Sie die Chiffre entschlüsselt haben«, sagte sie, »sollten Sie da nicht versuchen, alle fünfunddreißig Bände auswendig zu lernen, bevor Sie mit der Übersetzung beginnen?«
»Um so viel auswendig zu lernen, Königin, müsste ich beim Lesen entschlüsseln. Und wenn ich das ohnehin tue, kann ich auch gleich die Übersetzung anfertigen, damit Sie schon etwas zu lesen haben.«
»Ich hoffe, es sind nicht fünfunddreißig Bücher über Festvorbereitungen«, sagte sie.
»Ich werde den Nachmittag der Übersetzung widmen, Königin«, sagte er, »und bringe Ihnen dann das Ergebnis.«
An jenem Abend betrat er Bitterblues Wohnzimmer, während sie zusammen mit Helda, Giddon und Bann ein spätes Abendessen zu sich nahm. »Ist alles in Ordnung, Todd?«, fragte Bitterblue ihn, denn er sah … nun, er sah wieder alt und elend aus, ohne das triumphierende
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