Die Komplizin - Roman
Ärmel sauber. Während ich daran herumrieb, stellte ich mir vor, wie die Rillen meiner Fingerabdrücke langsam wieder verschwanden. Ich konnte nicht einfach abhauen, hatte noch einiges zu erledigen. Wichtige Aufgaben. Ich schluckte krampfhaft. Dann versuchte
ich, so tief wie möglich ein- und auszuatmen, doch es fiel mir schwer. Mein Atem verfing sich in der Luftröhre, so dass ich kurz das Gefühl hatte, ersticken zu müssen. Ich stellte mir vor, wie ich zu Boden stürzte und neben ihm zu liegen kam. Wie ich mit leerem Blick in den Flor des Teppichs hineinstarrte, die Hand auf seiner.
Ich holte mir eine Plastiktüte aus dem Schränkchen unter der Küchenspüle und legte meinen Schal, die CD, die Zahnbürste und die Hochzeitseinladung hinein. Dann nahm ich das Schlafzimmer unter die Lupe, wo sich die meisten seiner Sachen befanden. Ich durfte mir jetzt keinen Fehler erlauben, denn ich hatte nur diese eine Chance. Seinen Pass fand ich in der Nachttischschublade, zusammen mit einem Päckchen Kondome. Ich ließ beides in die Tüte fallen. Was noch? Ich ging ins Bad und nahm seinen Rasierer, das Deo und die leere Toilettentasche. Seine Jacke hing im Wohnzimmer über einer Stuhllehne. Ich griff in die Taschen und fand seine Geldbörse. Wie ich beim raschen Durchblättern des Inhalts feststellte, enthielt sie eine Kreditkarte, eine Debit-Karte, einen abgegriffenen Führerschein, eine Zwanzig-Pfund-Note (die ich ihm geliehen hatte), ein kleines Foto von einer Frau, die ich nicht kannte, ein Passfoto von ihm selbst. Diese strahlenden Augen, dieses überraschende Lächeln. Seine Hände auf meinem Körper. Obwohl dort drüben seine Leiche lag, brachte die Erinnerung meine Haut selbst jetzt noch zum Kribbeln. Ich ließ die Börse in die Plastiktüte fallen. Was noch? Er besaß so wenig. »Dich«, hörte ich ihn so deutlich sagen, als stünde er direkt neben mir, »dich habe ich besessen, Bonnie.« Schlagartig brach mir der kalte Schweiß aus. Ich hatte am ganzen Körper eine Gänsehaut und gleichzeitig Schweißperlen auf der Stirn. Mir war, als müsste ich mich jeden Moment übergeben. Ich presste die Finger an die Schläfen, um dem schmerzhaften Pochen Einhalt zu gebieten. Während ich so dastand, hörte ich plötzlich das Telefon klingeln – nicht das in der Wohnung, und
auch nicht mein Handy. Das hatte ich sowieso ausgeschaltet. Nein, es war sein Handy. Nun wusste ich, was ich vergessen hatte. Sein Handy. Ich ahnte bereits, wo es sich befand. Der gedämpfte Klang des Klingeltons bestätigte meine Vermutung. Ich wartete, bis es zu läuten aufhörte, und zwang mich dann, zu der Leiche zurückzukehren. Widerwillig ging ich in die Knie, schob mit geschlossenen Augen die Hand unter den Körper und tastete nach der rechteckigen Form. Ich schob meine Finger in die Tasche und zog das Handy heraus. Statt es jedoch in die Tüte zu stecken, schaltete ich es ab, ohne nachzusehen, wer ihn angerufen hatte, und verstaute es in meiner eigenen Hosentasche.
Anschließend warf ich erneut einen Blick auf ihn – nein, nicht ihn, sondern es , das große Ding auf dem Boden. Was nun? Mir war klar, dass ich das nicht allein schaffen konnte.
Davor
Eine Klasse Teenager zu bändigen, ist ein bisschen so, wie ein Orchester zu leiten. Wobei das Orchester in diesem Fall aus einer Art wilder, menschenfressender Bestie besteht – der Sorte Tier, die deine Angst riechen kann. Es nimmt sie in deinen Augen wahr, deiner schnellen Atmung, deinem beschleunigten Herzschlag. Dann stürzt es sich auf dich, tötet dich jedoch nicht sofort. Wie ein Krokodil oder Hai packt es dich und spielt eine Zeit lang mit dir. Manchmal fingen bei uns Lehrer an, die durchaus Selbstvertrauen, Kompetenz und ein dickes Fell mitbrachten, doch dann ging irgendetwas schief, und man fand sie in Tränen aufgelöst im Toilettenraum.
Wenn etwas richtig außer Kontrolle geriet, half nur noch eines: Man schickte nach Miss Hurst.
Miss Hurst war Sonia, meine beste Freundin an der Schule und mittlerweile wohl auch außerhalb. Wir kannten uns noch
gar nicht so lange, aber seit dem Moment, als wir uns am ersten Schultag auf der Lehrertoilette zum ersten Mal begegnet waren, verstanden wir uns blendend. Sie war von Natur aus weder gesellig noch extrovertiert – ein paar der anderen Lehrkräfte fanden, dass sie zu sehr auf Distanz blieb –, weshalb mir die herzliche Freundschaft, die sie mir entgegenbrachte, wie ein Geschenk erschien. Sonia hatte langes dunkles Haar, war
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