Die Komplizin - Roman
Wolle drückte. Mein Blick fiel auf die Hände, die wie suchend ausgestreckt waren.
Davor
Diese Hände. Als sie zum ersten Mal mein Gesicht berührten, meinen Nacken streichelten und mir durchs Haar fuhren, fühlten sie sich weicher an, als ich erwartet hatte. Freundlicher. Fast kam es mir damals vor, als würde ein Blinder versuchen, mit den Fingern meinen Körper zu erkunden. Langsam ließ er sie über meine Wirbelsäule gleiten, meinen nackten Rücken entlang. Dabei hatte ich das Gefühl, wie ein Instrument gespielt zu werden. Ungewohnte Basstöne entrangen sich mir, während er die Tasten meiner Wirbel drückte und mir mit streichenden Bewegungen eine Lust bereitete, die nicht weit von Schmerz entfernt war.
Danach
Ich konnte nicht anders, als mich neben ihn zu knien und für einen Moment einen Finger auf seine leicht gekrümmte Handfläche zu legen, die sich noch warm und weich anfühlte. Trotz allem war er eine Zeit lang mein gewesen. Er hatte mich angesehen, als wäre ich die schönste Frau der Welt, oder zumindest diejenige, die ihm am meisten bedeutete. Bei mir hatte er Trost gefunden. Das ist nicht so weit von Liebe entfernt.
Ich erhob mich wieder und wanderte suchend im Raum umher, ohne selbst so recht zu wissen, wonach ich eigentlich Ausschau hielt. Ich zog die Schublade des Tisches heraus, ging in die Hocke, um unters Sofa zu spähen, und lüpfte die Kissen auf dem Sessel. Irgendwo musste doch mein abgewetzter brauner Lederranzen sein, den ich schon als Schulmädchen getragen hatte und nun als Lehrerin erneut benutzte. Ich wusste genau, dass ich ihn mit geöffnetem Riemen hier auf der Sofalehne zurückgelassen hatte.
Als ich in die Küche hinüberschlich, achtete ich bewusst darauf, bei jedem Schritt auf den Fliesen sanft abzurollen, um ja keinen Lärm zu machen. Es herrschte das übliche Chaos: ungespülte Tassen und Teller, Krumen auf dem Tisch, ein Kaffeefleck auf dem Kochfeld, ein aufgerissenes Päckchen Kekse. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas ergab keinen Sinn. Ich öffnete jeden Schrank und blickte hinein. Ich zog sämtliche Schubladen heraus. Jedes Mal, wenn etwas schabte oder quietschte oder das Besteck klapperte, zuckte ich zusammen. Wo war meine Schürze, die ich ein paar Tage zuvor mitgebracht hatte, weil ich für uns zu kochen beabsichtigte und ausnahmsweise mal ein Oberteil trug, das ich nicht schmutzig machen wollte? Wo war mein liebstes – mein einziges – Kochbuch, auf dessen Umschlaginnenseite mein Name stand? »Für Bonnie, in Liebe von
Mum.« Erneut blieb ich einen Moment stehen. Während ich mich ratlos umblickte, spürte ich in meiner Brust ein unheilvolles Ziehen. Der Wasserhahn tropfte leise vor sich hin. Draußen hörte ich den Wind, der in kleinen Böen durch den Baum hinter dem Haus fuhr, das Tuckern der Autos entlang der Hauptstraße und das Rumpeln eines Lastwagens, dessen Erschütterung ich bis in meine Beine spüren konnte.
Auf Zehenspitzen schlich ich hinüber ins Schlafzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen, das Bett zerwühlt. Fast kam es mir vor, als könnte ich immer noch die Form seines Körpers – unserer Körper – darin ausmachen. Neben der Tür lag ein Häufchen schmutziger Wäsche. Obwohl ich mich genau erinnerte, wo die Bluse gelandet war, die er mir vom Leib gerissen hatte, konnte ich sie nun nirgendwo entdecken. Ich musste daran denken, wie er mich an dem Tag angesehen hatte – mit einem Blick, der in mir den Wunsch weckte, meine Nacktheit zu bedecken. Vergeblich hielt ich nach dem alten T-Shirt und den Flanellshorts Ausschau, die ich in kühlen Nächten immer trage. Nacheinander zog ich sämtliche Schubladen der Kommode heraus. Sie enthielten ein paar von Lizas Sachen, die sie nicht hatte mitnehmen wollen, und ein paar von den seinen, aber keine von meinen. Auch keinen Ranzen. Ich setzte mich aufs Bett und schloss für ein paar Sekunden die Augen. Es kam mir vor, als könnte ich ihn neben mir in der Dunkelheit spüren. Würde ich nun immer mit diesem Gefühl leben, oder würde es nachlassen und mit der Zeit verschwinden?
Im Bad griff ich nach meiner Zahnbürste. Seine konnte ich nirgendwo entdecken. Dafür fehlte mein Deo, während seines noch da war. Mein Rasierer und das Fläschchen mit meiner Bodylotion fehlten ebenfalls. Ich betrachtete mich im Spiegel über dem Waschbecken: ein kleines weißes Gesicht mit dunklen Augen, trockenen Lippen und einem Bluterguss am Hals, vom Blusenkragen halb
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