Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
Nagual keine Mühe, um diesen zufriedenzustellen.
»Nach lebenslanger Übung«, fuhr er fort, »wissen die Zauberer, vor allem die Naguals, ob der Geist sie auffordert, in dieses vor ihnen errichtete Gebäude einzutreten. Sie haben gelernt, ihr Bindeglied zur Absicht zu disziplinieren. Darum sind sie immer gewappnet und wissen, was der Geist mit ihnen vorhat.«
Aller Anfang auf dem Weg der Zauberer, sagte Don Juan, sei schwer, denn es ginge darum, dieses Bindeglied in Ordnung zu bringen. Beim Durchschnittsmenschen sei das Bindeglied zur Absicht praktisch tot, und die Zauberer müßten mit einem Bindeglied anfangen, das nutzlos sei, weil es nicht spontan reagierte. Um das Bindeglied wiederzubeleben, betonte er, brauchten Zauberer eine harte, unbändige Entschlossenheit - ein Bewußtseinszustand, den sie als unbeugsame Absicht bezeichnen. Der schwerste Teil der Lehrzeit eines Zauberers sei das Akzeptieren der Tatsache, daß nur der Nagual diese unbeugsame Absicht vermitteln könne.
Ich fragte, was daran so schwierig sein sollte.
»Ein Lehrling muß sich bemühen, sein Bindeglied zum Geist zu läutern und wiederzubeleben«, erklärte er. »Ist das Bindeglied wiederbelebt, dann ist er kein Lehrling mehr. Bis dahin braucht er jedoch eine unbändige Entschlossenheit, die er natürlich nicht hat. Darum läßt er es zu, daß der Nagual ihm diese Entschlossenheit vermittelt - und dazu muß er seine Individualität aufgeben. Das ist der schwierige Teil der Sache.«
Er erinnerte mich an eine Tatsache, die er mir schon oft erzählt hatte: nämlich, daß Freiwillige nicht willkommen wären in der Welt der Zauberer, weil sie bereits ein eigenes Ziel hätten, was es ihnen schwer mache, ihre Individualität aufzugeben. Wenn in der Welt der Zauberer Gedanken und Taten von ihnen verlangt würden, die diesem Ziel zuwiderliefen, wären die Freiwilligen nicht bereit, sich zu ändern.
»Das Bindeglied eines Lehrlings wiederzubeleben, ist die anspruchsvollste und interessanteste Aufgabe eines Nagual«, fuhr Don Juan fort, »und auch seine größte Last. Denn die Plane des Geistes sind - je nach dem Charakter des Lehrlings - von erhabener Schlichtheit oder kompliziert wie ein Labyrinth.«
Don Juan versicherte mir, daß meine eigene Lehrzeit, auch wenn ich einen anderen Eindruck hätte, für ihn nicht so belastend gewesen sei, wie seine Lehrzeit es für seinen Wohltäter gewesen sein mochte. Ich hätte ein Minimum an Disziplin, sagte er, das ihm sehr zustatten gekommen sei. Er selbst habe damals keine solche Disziplin gehabt - und sein Wohltäter noch weniger.
»Der Unterschied zeigt sich in den Offenbarungen des Geistes«, fuhr er fort. »Manchmal sind sie kaum wahrnehmbar. In meinem Fall waren sie direkte Befehle. Ich war angeschossen worden. Blut strömte aus einem Loch in meiner Brust. Mein Wohltäter mußte schnell und sicher handeln, genau wie sein Wohltäter es bei ihm getan hatte. Je komplizierter der Befehl - das wissen die Zauberer -, desto komplizierter wird der Schüler sein.«
Don Juan erklärte, er habe den Vorteil genossen, Schüler zweier Naguals zu sein, und darum habe er die gleichen Geschichten aus zwei entgegengesetzten Blickwinkeln erfahren. Die Geschichte vom Nagual Elias und den Offenbarungen des Geistes zum Beispiel, aus dem Blickwinkel des Lehrlings betrachtet, war die Geschichte vom Anklopfen des Geistes an die Tür seines Wohltäters.
»Alles, was meinem Wohltäter widerfuhr, war sehr schwierig«, sagte er und lachte. »Als er vierundzwanzig Jahre alt war, klopfte der Geist nicht nur an seine Tür - er schlug sie beinah ein.« Eigentlich, sagte er, hatte die Geschichte etliche Jahre früher begonnen, als sein Wohltäter, ein gut aussehender Jugendlicher aus wohlhabender Familie, in Mexico City lebte. Er war reich, gebildet, charmant, und er hatte eine charismatische Persönlichkeit. Die Frauen verliebten sich auf den ersten Blick in ihn. Aber schon damals ließ er sich gehen, er war undiszipliniert und faul bei allem, was ihm nicht unmittelbare Befriedigung schenkte.
Bei seinem Charakter und seiner Erziehung - er war der einzige Sohn einer reichen Witwe, die ihn, zusammen mit vier liebevollen Schwestern, bewunderte und verhätschelte - kannte er nur eine Verhaltensweise: Er leistete sich jede Schandtat, die ihm einfiel. Sogar bei seinen nicht minder verwöhnten Freunden galt er als immoralischer Mensch, der alles tat, was die Welt verurteilte. Seine Exzesse schwächten ihn mit der Zeit, und er erkrankte
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