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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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gestehen, daß ich, wenn ich meine Unabhängigkeit wahren wollte, überhaupt nicht über meine neuen Erfahrungen nachdenken durfte.
    Don Juan lachte so herzhaft, daß er beinah von seinem Rohrstuhl gekippt wäre. Er stand auf ging auf und ab, um Luft zu holen. Er setzte sich wieder und wurde ernst. Er schob seinen Stuhl zurück und schlug ein Bein über.
    Als Durchschnittsmenschen, sagte er, wissen wir nicht, und werden wir niemals wissen, daß etwas ganzes Reales und Funktionales - nämlich unser Bindeglied zur Absicht - uns seit jeher zwingt, uns Sorgen um unser Schicksal zu machen. Solange wir aktiv im Leben stehen, sagte er, finden wir niemals Gelegenheit, über die Stufe des bloßen Sorgen-Machens hinauszugehen, denn seit undenklichen Zeiten hat das Dahinplätschern des Alltags uns schläfrig gemacht. Erst wenn unser Leben beinah vorbei ist, nimmt unsere Sorge um das Schicksal allmählich eine andere Färbung an. Allmählich durchschauen wir den Nebel des Alltags. Traurigerweise ist dieses Erwachen stets verbunden mit einem altersbedingten Verlust an Energie, und wir haben nicht mehr die Kraft, die Sorge um unser Schicksal als eine positive und praktische Entdeckung umzusetzen, zu werten. Nun bleibt nichts als eine dumpfe, bohrende Angst, eine Sehnsucht nach etwas Unbeschreiblichem und Zorn darüber, etwas versäumt zu haben.
    »Gedichte gefallen mir aus vielen Gründen«, sagte er. »Einer der Gründe ist, daß sie die Stimmung des Kriegers einfangen und erklären, was kaum erklärt werden kann.«
    Die Dichter, gestand er, wüßten wohl um unser Bindeglied zu dem Geist; doch wüßten sie dies nur intuitiv, nicht auf die bewußte und praktische Weise der Zauberer.
    »Die Dichter haben kein unmittelbares Wissen vom Geist«, fuhr er fort. »Das ist der Grund, warum ihre Gedichte niemals den Kern wahrer Gesten für den Geist treffen. Allerdings kommen sie ziemlich nah heran.«
    Er hob einen meiner Lyrikbände vom Stuhl neben ihm auf - eine Sammlung von Juan Ramon Jimenez. Er schlug das Buch auf, wo er ein Lesezeichen eingelegt hatte, reichte es mir und bat mich, ihm vorzulesen.
     
    Bin ich es, der nachts
    durch mein Zimmer wandert, oder der Bettler,
    der durch meinen Garten schlich
    in der Abenddämmerung?
     
    Ich sehe mich um
    und finde, daß alles noch
    gleich ist, und ist doch nicht gleich ...
    War das Fenster offen?
    War ich nicht eben eingeschlafen?
     
    War der Garten nicht blaß-grün? ...
    Der Himmel war klar und blau ...
    Und da sind Wolken
    und es ist windig
    und der Garten ist dunkel und traurig.
    Ich glaube, mein Haar war schwarz ...
    Ich war gekleidet in Grau ...
    Und mein Haar ist grau
    und ich bin gekleidet in Schwarz ...
    Ist dies mein Gang?
    Hat diese Stimme, die nun in mir hallt,
    noch den Rhythmus der Stimme, die ich einmal hatte?
    Und bin ich ich selbst, oder bin ich der Bettler,
    der durch meinen Garten schlich
    in der Abenddämmerung?
     
    Ich sehe mich um ...
    Da sind Wolken, und es ist windig ...
    Der Garten ist dunkel und traurig ...
     
    Ich komme und gehe ... Ist es nicht wahr,
    daß ich bereits eingeschlafen war?
    Mein Haar ist grau ... Und alles ist
    gleich und doch nicht mehr gleich ...
     
    Ich las das Gedicht noch einmal im Stillen und erfaßte die Stimmung von Ohnmacht und Bestürzung, die der Dichter aussprach. Ich fragte Don Juan, ob er es ähnlich empfinde.
    »Ich glaube, der Dichter spürt die Bedrängnis des Alters und auch die Angst, die diese Erkenntnis bewirkt«, sagte Don Juan. »Aber das ist nur ein Teil der Sache. Der andere Teil interessiert mich mehr - nämlich, daß der Dichter, auch wenn er nie seinen Montagepunkt bewegt hat, dennoch ahnt, daß es um etwas Ungeheuerliches geht. Er ahnt mit großer Gewißheit, daß es eine, in ihrer Schlichtheit um so ehrfurchtgebietendere Kraft gibt, die unser Schicksal regiert.«

3. Die Täuschungen des Geistes
     
     
     
     
     
Das Bindeglied zum Geist läutern
    Die Sonne war noch nicht aufgegangen über den Gipfeln im Osten, aber es war schon heiß. Als wir den ersten Abhang erreichten, ein paar Meilen vor der Stadt, blieb Don Juan stehen und wandte sich zur Böschung neben dem Highway. Er setzte sich unter ein paar große Felsblöcke, die beim Bau der Straße aus der Bergflanke herausgesprengt worden waren, und gab mir ein Zeichen, mich neben ihn zu setzen. Hier machten wir meistens halt, um uns zu unterhalten oder zu rasten auf dem Weg in die nahen Berge. Diesmal, verkündete Don Juan, könnte es ein langer Ausflug werden;

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