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Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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umarmte Don Juan. Er verfluchte den Augenblick, als er dem anderen das Leben gerettet hatte, und beteuerte, er habe nicht ahnen können, daß sie einst Plätze tauschen würden. Er putzte sich die Nase, sah Don Juan mit geröteten Augen an und sagte: »Verkleidung ist die einzige Möglichkeit, zu überleben. Wenn du dich nicht richtig benimmst, kann das Ungeheuer deine Seele rauben und dich in einen Idioten verwandeln, der nichts anderes kann, als seine häuslichen Pflichten zu erfüllen. Wie schade, daß ich keine Zeit habe, dich die Schauspielerei zu lehren.« Und er weinte noch mehr.
    Don Juan bat ihn mit tränenerstickter Stimme, ihm doch zu verraten, wie er sich verkleiden könne. Belisario vertraute ihm an, daß das Ungeheuer furchtbar kurzsichtig sei, und empfahl Don Juan, mit verschiedenen Kleidern zu experimentieren, ganz wie es ihm gefiel. Immerhin habe er jahrelang Zeit, um verschiedene Verkleidungen auszuprobieren. Er umarmte Don Juan vor der Tür und weinte hemmungslos. Seine Frau streichelte schüchtern Don Juans Hand. Dann waren sie fort.
    »Niemals in meinem Leben, weder vorher noch nachher, habe ich solche Angst und Verzweiflung empfunden«, sagte Don Juan. »Das Ungeheuer polterte im Haus, als warte es ungeduldig auf mich. Ich setzte mich neben die Tür und winselte wie ein kranker Hund. Dann erbrach ich mich vor Angst.«
    Stundenlang saß Don Juan dort und wagte nicht, sich zu bewegen. Er wagte nicht, fortzulaufen, er wagte nicht, ins Haus zu gehen. Man könne ohne Übertreibung sagen, meinte er, daß er nah daran war zu sterben, als er Belisario sah, der auf der anderen Straßenseite heftig mit den Armen fuchtelte und seine Aufmerksamkeit zu erregen suchte. Ihn nur wiederzusehen, brachte Don Juan sofort Erleichterung. Belisario hockte am Bürgersteig und beobachtete das Haus. Er bedeutete Don Juan zu bleiben, wo er war.
    Nach qualvoll langer Pause kroch Belisario auf Händen und Knien ein paar Meter in Don Juans Richtung, dann blieb er wieder völlig reglos hocken. So rückte er kriechend vor, bis er bei Don Juan angekommen war. Es dauerte Stunden. Viele Passanten waren vorbeigegangen, aber niemand schien Don Juans Verzweiflung oder das Verhalten des Alten bemerkt zu haben. Als die beiden nebeneinander saßen, flüsterte Belisario, es sei ihm als unrecht erschienen, Don Juan zurückzulassen wie einen am Pfosten angelernten Hund. Seine Frau habe ihm Vorwürfe gemacht; er aber sei zurückgekehrt, um ihn zu retten. Immerhin habe er Don Juan seine Freiheit zu verdanken.
    In gebieterischem Flüsterton fragte er Don Juan, ob er bereit wäre, um seiner Notlage zu entrinnen. Don Juan beteuerte, er werde alles tun. Belisario steckte Don Juan verstohlen ein Kleiderbündel zu. Dann skizzierte er seinen Plan. Don Juan sollte sich in den Winkel des Hauses begeben, der von den Zimmern des Ungeheuers am weitesten entfernt lag, und sich dort langsam ausziehen, immer ein Kleidungsstück nach dem anderen, angefangen mit seinem Hut und die Schuhe aufsparend bis zuletzt. Dann sollte er seine Kleider über ein Holzgestell streifen, ein Gebilde ähnlich einer Kleiderpuppe, das er schnell und praktisch bauen sollte, sobald er im Innern des Hauses wäre. Als nächsten Schritt sah der Plan vor, daß Don Juan die einzige Verkleidung anlegen sollte, die das Ungeheuer täuschen konnte: die Kleider in dem Bündel.
    Don Juan lief ins Haus und bereitete alles vor. Er baute eine Art Vogelscheuche aus Latten, die er hinter dem Hause fand, zog seine Kleider aus und hängte sie darüber. Doch als er das Bündel aufschnürte, erlebte er die Überraschung seines Lebens. Das Bündel enthielt Frauenkleider!
    »Ich fühlte mich dumm und verloren«, sagte Don Juan, »und ich wollte schon meine eigenen Sachen wieder anziehen, als ich das unmenschliche Knurren des Ungeheuers hörte. Ich war in dem Glauben erzogen, daß Frauen verächtlich wären, und nur dazu da, den Männern zu dienen. Frauenkleider anzuziehen, das bedeutete für mich soviel, wie eine Frau zu werden. Aber meine Angst vor dem Ungeheuer war so groß, daß ich die Augen schloß und die verdammten Kleider anzog.«
    Ich sah Don Juan an und stellte ihn mir in Frauenkleidern vor. Es war eine so alberne Vorstellung, daß ich wider Willen in ein schallendes Gelächter ausbrach.
    Don Juan erzählte, daß der alte Belisario, der ihn auf der anderen Straßenseite erwartete, hemmungslos zu weinen anfing, als er Don Juan in dieser Verkleidung sah. Weinend geleitete er Don Juan zum

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