Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
Mann sagte, daß er Belisario heiße und daß seine Frau eine berühmte Heilerin sei; sie beide würden seine Wunde heilen. Don Juan sagte ihm, er habe kein Geld, aber Belisario schlug vor, die Zahlung werde sich schon irgendwie regeln lassen, wenn er erst geheilt wäre.
Don Juan erzählte, er sei damals ganz verwirrt gewesen, was für ihn kein unbekannter Zustand war. Er war nur ein muskulöser, rücksichtsloser Indianer von zwanzig Jahren, ohne Hirn und ohne Bildung, und mit einem schlimmen Charakter. Er hatte keine Ahnung von Dankbarkeit. Er fand es recht freundlich von dem Alten und seiner Frau, daß sie ihm geholfen hatten. Aber er hatte die Absicht, zu warten, bis seine Wunde geheilt wäre, und dann einfach in der Nacht zu verschwinden.
Als er sich einigermaßen erholt hatte und an Flucht dachte, führte der alte Belisario ihn in ein Zimmer und vertraute ihm flüsternd an, daß das Haus, in dem sie lebten, einem Ungeheuer gehöre, das ihn und seine Frau als Gefangene hielt. Er bat Don Juan, er möge ihnen helfen, ihrem Zwingherrn und Quälgeist zu entfliehen und ihre Freiheit wiederzuerlangen. Bevor Don Juan antworten konnte, platzte ein fischköpfiges Ungeheuer - wie aus dem Schauermärchen - in das Zimmer, als habe es vor der Tür gelauscht. Es war von grünlich-grauer Farbe, hatte nur ein starres Auge mitten auf der Stirn und war groß wie eine Tür. Er stürzte sich auf Don Juan zischend wie eine Schlange und bereit, ihn in Stücke zu reißen, und jagte ihm einen solchen Schrecken ein, daß er in Ohnmacht fiel.
»Seine Methode, meinem Bindeglied zum Geist einen Stoß zu versetzen, war meisterhaft«, lachte Don Juan. »Mein Wohltäter hatte mich natürlich vor dem Auftritt des Ungeheuers in den Zustand gesteigerter Bewußtheit wechseln lassen, und was ich tatsächlich als Ungeheuer sah, war etwas, das die Zauberer als anorganisches Wesen bezeichnen, ein formloses Energiefeld.«
Don Juan sagte, er wisse von unzähligen Fällen, in denen die teuflische Art seines Wohltäters spaßig peinliche Situationen für all seine Lehrlinge geschaffen habe, besonders für Don Juan, dessen steifer Ernst ihn zur perfekten Zielscheibe für die lehrreichen Scherze seines Wohltäters machte. Nach kurzem Überlegen fügte er hinzu, diese Scherze hätten seinem Wohltäter natürlich viel Spaß gemacht.
»Falls du glaubst, ich lache über dich - was ich tu -, so ist es nichts im Vergleich zu der Art, wie er über mich lachte«, fuhr Don Juan fort. »Mein teuflischer Wohltäter hatte gelernt zu weinen, um sein Lachen zu verbergen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie er weinte, als ich meine Lehrzeit begann.«
Don Juan fuhr fort mit seiner Geschichte und meinte, sein Leben sei nach dem Schock, als er jenes Ungeheuer sah, nie wieder geworden wie vorher. Dafür sorgte sein Wohltäter. Don Juan erklärte, daß ein Nagual, sobald er seinen künftigen Schüler, besonders seinen Nagual-Schüler, in die Illusionstricks eingeführt hat, versuchen muß, sich dessen Einwilligung zu sichern. Diese Einwilligung könne auf zweierlei Art erfolgen. Entweder der künftige Schüler ist so diszipliniert und eingestimmt, daß es nur seiner Entscheidung bedarf, sich dem Nagual anzuschließen, wie es bei der jungen Talia der Fall gewesen war. Oder der künftige Schüler hat wenig oder gar keine Disziplin und in diesem Fall muß ein Nagual viel Zeit und Mühe aufwenden, um seinen Schüler zu gewinnen. Im Falle Don Juans, der ein ungebärdiger junger Bauer war, ohne jeden Gedanken im Kopf, nahm das Bemühen, ihn zu gewinnen, zwei groteske Wendungen.
Bald nach dem ersten Stoß versetzte sein Wohltäter ihm einen zweiten, indem er Don Juan seine Verwandlungskunst zeigte. Eines Tages wurde sein Wohltäter ein junger Mann. Don Juan konnte sich diese Verwandlung nicht anders erklären denn als Beispiel einer mitreißenden Schauspielkunst.
»Wie erreichte er solche Veränderungen?« fragte ich.
»Er war ein Magier und auch ein Künstler«, antwortete Don Juan. »Seine Magie war, daß er sich verwandelte, indem er seinen Montagepunkt in jene Position bewegte, die die jeweils von ihm gewünschte Veränderung herbeiführte. Seine Kunst war, diese Verwandlungen zu vervollkommnen.«
»Ich verstehe noch immer nicht, was du mir da erzählst«, sagte ich.
Die Wahrnehmung, sagte Don Juan, ist der Angelpunkt all dessen, was der Mensch ist und tut, und die Wahrnehmung wird bestimmt durch die Lage des Montagepunktes. Wenn also dieser Punkt seine Position
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