Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan

Titel: Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
Vom Netzwerk:
daß das Leben, und nicht der Tod, die Herausforderung ist.«
    »Das Leben ist der Prozeß, mittels dessen der Tod uns herausfordert«, sagte er. »Der Tod ist die aktive Kraft. Das Leben ist die Arena. Und in dieser Arena stehen immer nur zwei Kämpfer zur gleichen Zeit; man selbst und der Tod.«
    »Ich würde meinen, Don Juan, daß wir Menschen die Herausforderer sind«, sagte ich.
    »Ganz und gar nicht«, erwiderte er. »Wir sind passiv. Denk einmal darüber nach. Wenn wir uns bewegen, dann nur, weil wir den Zwang des Todes fühlen. Der Tod bestimmt das Tempo unserer Handlungen und Gefühle, er stößt uns erbarmungslos weiter, bis er uns zerbricht und den Kampf gewinnt, oder aber, wir erheben uns über alle Möglichkeiten und besiegen den Tod.
    Die Zauberer besiegen den Tod, und der Tod erkennt die Niederlage an, indem er die Zauberer freigibt, um sie nie wieder herauszufordern.«
    »Das bedeutet, daß die Zauberer unsterblich werden?«
    »Nein, das bedeutet es nicht«, erwiderte er. »Der Tod hört auf, sie herauszufordern, das ist alles.«
    »Doch was bedeutet das, Don Juan?« fragte ich.
    »Es bedeutet, daß das Denken einen Salto ins Unvorstellbare geschlagen hat«, sagte er.
    »Was ist ein Salto in das Unvorstellbare?« fragte ich - bemüht, nicht allzu streitlustig zu klingen. »Die Schwierigkeit zwischen uns beiden ist, daß wir nicht von denselben Bedeutungen sprechen.«
    »Du bist nicht aufrichtig«, unterbrach mich Don Juan. »Du verstehst, was ich meine. Es ist ein Hohn, wenn du von mir eine rationale Erklärung für den Salto ins Unvorstellbare verlangst. Du weißt genau, was es ist.«
    »Nein, weiß ich nicht«, sagte ich.
    Und dann wurde mir klar, daß ich es doch wußte - oder vielmehr, daß ich intuitiv ahnte, was er meinte. Ein Teil von mir war imstande, sich über meine Rationalität hinwegzusetzen und den Salto ins Unvorstellbare - jenseits aller Symbolik - zu begreifen und zu erklären. Dummerweise war dieser Teil meiner selbst nicht stark genug, um willentlich in den Vordergrund zu treten.
    Ich äußerte dies zu Don Juan, der nur lachte und meinte, daß mein Bewußtsein wie ein Jo-Jo sei. Manchmal stieg es zum höchsten Punkt, und meine Erkenntnis sei scharf; dann wieder sank es hinab, und ich wurde zum rationalen Schwachkopf. Meist aber schwebe es auf einer wertlosen Mittellinie, wo ich weder Fisch noch Fleisch sei.
    »Ein Salto des Denkens in das Unvorstellbare«, so erklärte er mit einem Anflug von Resignation, »ist das Herabsteigen des Geistes; es ist das Durchbrechen unserer Wahrnehmungsschranken. Es ist der Augenblick, da die Wahrnehmung des Menschen an ihre Grenzen stößt. Die Zauberer üben die Kunst, Pfadfinder auszusenden, Vorläufer, welche die Grenzen unserer Wahrnehmung erforschen. Dies ist ein weiterer Grund, warum ich Gedichte liebe. Ich begreife sie als Vorläufer. Aber wie ich dir sagte, die Dichter wissen nicht so gut wie die Zauberer, was solche Vorläufer erreichen können.«
    Am frühen Abend sagte Don Juan, daß wir vieles zu besprechen hätten, und er fragte mich, ob ich einen Spaziergang machen wolle. Ich war in einer sonderbaren Gemütsverfassung. Vordem hatte ich eine seltsame Distanziertheit an mir bemerkt, die kam und wieder ging. Zuerst glaubte ich, es sei die körperliche Erschöpfung, die meine Gedanken trübe. Doch meine Gedanken waren kristallklar. Also kam ich zu der Überzeugung, meine sonderbare Gleichgültigkeit sei eine Folge meines Überwechselns in den Zustand gesteigerter Bewußtheit.
    Wir verließen das Haus und schlenderten über die Plaza der Stadt. Ich beeilte mich, Don Juan wegen meiner Distanziertheit zu befragen, bevor er Gelegenheit fand, ein anderes Thema anzuschneiden. Er erklärte sie mir als eine Verschiebung von Energie. Sobald die Energie, die normalerweise benötigt werde, um den Montagepunkt in seiner festen Position zu halten, freigesetzt werde, richte sie sich automatisch auf jenes Bindeglied. Und er versicherte mir, daß die Zauberer keine Techniken oder Methoden kennen, um die Verschiebung von Energie von einer Stelle zur anderen im voraus zu lernen. Vielmehr ist es eine plötzliche Verschiebung, die eintritt, sobald eine gewisse Ebene des Könnens erreicht ist.
    Ich fragte ihn, was diese Ebene des Könnens sei.
    »Das reine Verstehen«, antwortete er. »Um diese plötzliche Energieverschiebung zu erreichen, braucht man eine klare Verbindung zur Absicht, und um eine klare Verbindung zu bekommen, braucht man sie nur durch reines

Weitere Kostenlose Bücher