Die Kraft der Stille. Neue Lehren des Don Juan
verstand und je klarer seine Aussagen mir wurden, desto größer war mein Gefühl der Verlassenheit und Verzweiflung. Irgendwann erwog ich ernstlich, meinem Leben gleich hier ein Ende zu setzen. Ich wußte, ich war verdammt. Fast unter Tränen sagte ich zu Don Juan, daß es sinnlos sei, wenn er seine Erklärung fortsetzte, denn ich wisse, daß ich im Begriff stünde, meine Geistesklarheit zu verlieren; und wenn ich in meinen normalen Bewußtseinszustand zurückkehrte, würde ich keinerlei Erinnerung haben an das, was ich hörte und sah. Mein alltägliches Bewußtsein würde mir seine lebenslange Gewohnheit der Wiederholung und auch die vernünftige Vorhersagbarkeit seiner Logik aufzwingen. Dies sei der Grund, warum ich mich verdammt fühlte. Ich sagte ihm, ich hasse mein Schicksal.
Don Juan erwiderte, daß ich sogar im Zustand gesteigerter Bewußtheit eine Vorliebe für Wiederholungen hätte; ich langweilte ihn immer wieder, wenn ich ihm meine Anfälle von Minderwertigkeitsgefühlen schilderte. Wenn ich schon untergehen mußte, sagte er, sollte ich es kämpfend tun, nicht unter Entschuldigungen und Selbstmitleid. Unser individuelles Schicksal sei belanglos, solange wir es mit äußerster Hingabe akzeptierten.
Seine Worte machten mich ganz glückselig. Mit tränenüberströmten Wangen wiederholte ich immer wieder, wie recht er hätte. Solch ein tiefes Glücksgefühl war in mir, daß ich argwöhnte, meine Nerven könnten entgleisen. Ich bot all meine Kräfte auf, um diesen Zustand zu beenden, und spürte den ernüchternden Effekt meiner geistigen Notbremse. Aber indem dies geschah, begann meine Geistesklarheit sich aufzulösen. Im stillen kämpfte ich und versuchte beides zu sein - weniger nüchtern und weniger nervös. Don Juan gab keinen Laut von sich und ließ mich in Ruhe.
Bis ich mein Gleichgewicht wiedergewonnen hatte, war beinah die Dämmerung angebrochen. Don Juan stand auf, reckte die Arme über den Kopf und spannte seine Muskeln, so daß seine Gelenke knackten. Er half mir auf und meinte, ich hätte doch eine höchst erleuchtende Nacht verbracht: Ich hätte erlebt, was der Geist sei, und hätte verborgene Kräfte aufzubieten vermocht, um etwas zu erreichen, was - oberflächlich betrachtet - nichts anderes zu sein schien als eine Beruhigung meiner Nervosität. Aber auf einer tieferen Ebene war es tatsächlich eine sehr erfolgreiche Bewegung meines Montagepunkts.
Dann bedeutete er mir, daß es Zeit war, den Rückweg anzutreten.
Der Salto des Denkens
Wir kamen gegen sieben Uhr morgens in sein Haus, gerade rechtzeitig zum Frühstück. Ich war ausgehungert, aber nicht müde. Im Morgengrauen hatten wir die Höhle verlassen, um in das Tal hinabzusteigen. Statt die direkte Route zu wählen, hatte Don Juan einen Umweg gemacht, der uns an einem Bach entlangführte. Er sagte, wir müßten unseren Verstand sammeln, bevor wir nach Hause kämen.
Ich fand, es sei recht freundlich von ihm, »unser Verstand« zu sagen, wo doch einzig mein Verstand in Unordnung geraten war. Er aber antwortete, sein Handeln sei nicht durch Freundlichkeit bestimmt, sondern durch die Schulung eines Kriegers. Ein Krieger, sagte er, sei immer auf der Hut vor der Grobheit menschlichen Verhaltens. Ein Krieger sei magisch und rücksichtslos, ein Einzelgänger mit feinstem Geschmack und Betragen, dessen Auftrag auf Erden es sei, seine spitzen Krallen zu schärfen und doch zu verbergen, damit niemand seine Rücksichtslosigkeit vermute.
Nach dem Frühstück hielt ich es für klug, ein wenig Schlaf nachzuholen, aber Don Juan behauptete, ich hätte keine Zeit zu verlieren. Allzu bald, sagte er, würde ich das bißchen Klarheit verlieren, das mir verblieben sei, und wenn ich schlief, würde ich sie ganz einbüßen.
»Man braucht kein Genie zu sein, um herauszufinden, daß es unmöglich ist, über die Absicht zu sprechen«, sagte er. »Aber diese Feststellung hat nichts zu bedeuten. Dies ist auch der Grund, warum die Zauberer lieber auf Zauberei-Geschichten zurückgreifen. Sie hoffen, die abstrakten Kerne dieser Geschichten werden den Zuhörern eines Tages verständlich sein.«
Ich verstand, was er sagte, aber ich konnte mir noch immer nicht vorstellen, was ein abstrakter Kern sei oder was er mir bedeuten solle. Ich versuchte darüber nachzudenken. Ein Trommelfeuer von Gedanken bestürmte mich. Bilder schossen mir durch den Kopf und ließen mir keine Zeit, über sie nachzudenken. Ich konnte sie nicht einmal verlangsamen, um sie besser zu erkennen.
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